Gehören Juden heute zu Deutschland? Das fragt ein in Berlin aufgewachsener Israeli in seinem neuen Buch. Wegen des Antisemitismus in der Hauptstadt wanderte er einst aus.
DRESDEN/ZWICKAU. In Leipzig, Zwickau, Dresden, Bad Muskau ist der 41-Jährige im Herbst auf Lesereise gewesen. Arye Sharuz Shalicar, in Göttingen geborener und in Berlin-Spandau und ‑Wedding aufgewachsener Sohn jüdisch-persischer Eltern, war auf Einladung des sächsischen Landesbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung gekommen, um vor allem in Schulen aus seinem Buch „Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland?“ vorzutragen. Dabei erklärte er, diskutierte, stritt, wie der Reserveoffizier das seit Jahren auf seinem Facebook-Blog mit vielen Tausend Followern tut, über Israel, Juden, Antisemitismus. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Bedarf dafür sieht der verheiratete Vater zweier Kinder deutschlandweit, „denn kaum wer hat angesichts der wenigen Juden im Land direkten Kontakt, meist aber eine Meinung über sie und Israel“, so Shalicar, der 2001 wegen des Antisemitismus in Berlin nach Israel auswanderte.
„Alles deutet … darauf hin, dass Deutschland 2018 in vielerlei Hinsicht, zumindest aus Sicht der Juden, eher 1936 als 1945 ist“, schreibt Shalicar im Vorwort. Anders als im Vorwort angegeben, ist sein Buch aber eher Streitschrift oder Polemik und keine Analyse. Das tut der Glaubwürdigkeit indes keinen Abbruch. Auf manchen mag Shalicars Weckruf übertrieben, auch einseitig wirken. Aber ihn deshalb wegwischen? „70 Jahre nach dem Holocaust frage ich mich, ob Juden heute zu Deutschland gehören und wie willkommen sie … sind“, heißt es an anderer Stelle.
Bedeutung des unter Muslimen verbreiteten Antisemitismus nimmt zu
Wer, wie in diesen Zeiten viele, bei Antisemitismus nur auf Zuwanderer aus Nahost oder Nordafrika schielt, mache es sich zwar zu einfach. Doch das Gewicht der muslimischen Migranten mit dem ihnen von kindauf eingetrichterten Juden- und Israelhass wachse. Israels Bild als vermeintlichem Goliath, dem Palästinenser und manches Nachbarland ausgeliefert sind, sei aber nicht nur bei Muslimen verbreitet. Eine Fehlwahrnehmung, die schon beim Blick auf die Größenverhältnisse auf der Landkarte offenbar werde, deshalb aber nicht aus der Welt sei. Stattdessen ziehe sie immer weitere Kreise: in einem längst sehr breiten linken Spektrum bis hin zu Intellektuellen, dazu verstärkt wieder offen seit 2015 unter Rechtsextremisten und lange schon in vielen Medien und einigen kirchlichen Kreisen.
Der einseitige Blick auf Israel, so der einstige Sprecher der israelischen Armee, verstelle die Sicht auf den längst entscheidenden Nahostkonflikt, bei dem weit mehr Opfer zu beklagen sind als in dem zwischen Israel und Palästinensern: auf den innermuslimischen. Die Mehrzahl deutscher Medien schere das in ihrer Berichterstattung zu wenig, sie sähen sich oft in der Pflicht, eingeübte „israelkritische“ Erwartungshaltungen ihrer Konsumenten zu befriedigen. Shalicar hat Erfahrungen gemacht, für die ARD gearbeitet und später als Militärsprecher Journalisten durch seine neue Heimat geführt.
Bei seiner Problemschau des hiesigen Antisemitismus betrachtet er unterschiedliche Milieus. Es ist die Sicht eines säkularen Juden aus einfachen ökonomischen Verhältnissen – der Vater zuletzt Taxifahrer, die Mutter Hausfrau: in vielerlei Hinsicht eine überraschende Perspektive, die Lektüre aber nichts für sensible Gemüter.
Die „schweigende Mitte“ erreichen
Die Lage sei ernst: Gebetsstätten keiner anderen Glaubens- oder Kultusgemeinschaft werden in Deutschland flächendeckend und dauerhaft durch Polizei bewacht. Wer sich als Jude öffentlich zu erkennen gibt, hat oft wenig zu lachen: Kinder wechseln wegen Mobbing Schulen. Wer eine Kippa trägt, dem drohen Gürtelschläge. „Juden ins Gas“, so tönt es auf deutschen Straßen, Davidsterne werden verbrannt. Deutschland gedenkt würdig der Vergangenheit, scheitert aber daran, heute hier lebende Juden zu schützen.
Antisemitismus sei ein gesamtdeutsches Problem. „Jude, verpiss Dich aus unserm Bezirk!“, habe er schon vor Jahren regelmäßig gehört. Der Hatz in Berlin zeitweise entkommen konnte er nur mit Anpassung in Sprache, Kleidung, Verhalten an das muslimische Milieu, das örtlich von Clankriminalität dominiert werde. Sein Bruder wurde zusammengeschlagen. „Statistiken“, schreibt Shalicar, „die behaupten, dass nur ein kleiner Prozentsatz der antisemitischen Vorfälle und Übergriffe auf deutschen Straßen von Muslimen begangen werden, sind irreführend … Ich habe nicht eine einzige Anzeige erstattet.“ Aus Stolz? Aus Angst?
Hinzu komme der oft unterbelichtete Antisemitismus unter Linken. Viele propagierten zwar, „kein Mensch“ sei „illegal“. Das gelte indes oft dann nicht, wenn es sich um Israelis im eigenen, einzigen derartigen Staat weltweit handele. „Israelkritisch“ eingestellt zu sein, gehöre zum guten Ton und diene doch oft als Chiffre für Antisemitismus, die es in den „Duden“ geschafft hat. Chinakritisch, irankritisch, saudi-kritisch – derartige Vokabeln fehlten dort. Kein Zufall sei das, sondern Zeichen einer Unwucht und Querfront dazu, die von muslimischen über linke bis rechte Kräfte Allianzen schmiede gegen Juden und Israel. Aus Neid etwa. Dabei sei der Staat die einzige Demokratie der Region mit echten Rechten für Säkulare, Angehörige anderer Religionen, Homosexuelle …
Shalicar will die „schweigende Mitte“ erreichen. Er hat, angereichert um Dutzende Zitate des im Internet platzgreifenden Hasses, ein Buch geschrieben, das auch da, wo es Widerspruch hervorrufen muss, weil es etwa über Gebühr vereinfacht, eine Stimme liefert, die es so sonst schwer hat: die eines Juden, der Erfahrung aus Deutschland und Israel mitbringt, der die geostrategische Lage in Nahost genau kennt, dazu die Auseinandersetzung sucht, dabei austeilen, aber auch einstecken kann. Der im Untertitel aufgeworfenen Frage weicht er dabei nicht aus.
Arye Sharuz Shalicar: Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse. Verlag Hentrich & Hentrich, 160 Seiten, 16,90 Euro.