„Freitagmorgens zu ‚Gradel‘“ lautete bald nach dem Umzug nach Dresden Woche für Woche die selbsterteilte Weisung, die schnell Sehnsucht wurde und logische Konsequenz aus der Erkundung des näheren Wohnumfelds – bis das Coronavirus das öffentliche Leben vorderhand zum Stillstand brachte, auch Cafés oder Restaurants einstweilen schlossen. Dann wurden Baumkuchen – saftig und nicht zu süß –, eine Spezialität des Hauses, in alle Himmelsrichtungen per Post auf den Weg gegeben, um Freunde und Verwandte zu grüßen und dem vertrauten Haus an der Wehlener Straße 28 anderweitig nahe zu sein und von seinen Erzeugnissen zu zehren.
Was währenddessen fehlte, wog dennoch schwer: der Ausbruch aus der Alltagsroutine, für eine oder anderthalb Stunden, dazu das „große Frühstück“, zu dem ein Kännchen Kaffee, Salami- und Käseauswahl, die eine Woche diese, die andere jene Brötchen, Marmelade und die zusätzlich georderte Portion Rührei mit Schinken gereicht werden, oft noch eine weitere Tasse Kaffee und, weil ich bei der Bezahlung an der Theke nicht vorbeikomme, ein, zwei kugelrunde hausgefertigte Pralinés als Finale. Zu diesem „Programm“ gehört auch eine der örtlichen Tageszeitungen, die Seniorchefin Monika Gradel stets – nach anfänglichem Fragen, bald ohne – direkt aus dem Briefkasten, doch mit immer gleicher Bitte um Nachsicht herbeischafft, dass sie noch nicht im Café liegt: Man komme selbst kaum zum Lesen, jedenfalls nicht vor dem Abend, wenn das Tagwerk verrichtet.
Das Zeitungsangebot ist spärlich. Die Nachfrage fehlt. Alles fließt. Papierne Presseerzeugnisse, die einst zum Inventar von Kaffeehäusern zählten, geraten aus der Mode wie ihre früheren Herbergen. Doch die geringe Anzahl morgendlicher Gäste, die hier an ihrer Tasse Kaffee nippt, speist, miteinander gedämpft plaudert, hat ihr Gutes für den Ungestörtheit suchenden Stammgast, auch wenn die Hausleitung hart daran trägt, nicht vom Touristenstrom zu profitieren, der sich täglich durch die Altstadt wälzt. Denn bei der raren Anzahl Gleichgesinnter, die dem Café die Aufwartung macht, während der Laden schon stärker frequentiert ist, handelt es sich meist lediglich um einige Lehrer aus dem nahen Schulkomplex – oder Trauernde. Letztere bringen hier manche Stunde wartend zu, bis sie auf dem gegenüberliegenden Friedhof mit der von Reichstagsarchitekt Paul Wallot mächtig überkuppelten Kapelle von ihren Lieben Abschied nehmen – oder erst im Anschluss, um die Mittagsstunde, zu „Gradel“ wechseln. So hat der Besucher den langen Schlauch, der sich wie der senkrechte Balken des Buchstabens „L“ an das Ladengeschäft schmiegt, oft als Gastraum für sich. Einst befand sich hier die Backstube, die in ein Seitengebäude auf dem Grundstück umgezogen ist.
Frau Gradel, früher eine begeisterte Theatergängerin, seit Jahren aber ganz vom Betrieb gefordert, hatte mit ihrem Mann Wolfgang, Konditormeister und Sohn der vorherigen Inhaber, in dritter Generation, 1977, das Haus von dessen Eltern Gerhard und Anni übernommen. Gerhards Vater, der Konditor- und Pfefferküchlermeister Max, und Mutter Olga waren es, die es 1919 zunächst an der Striesener Straße eröffneten. Dort war das Geschäft im Zweiten Weltkrieg ausgebombt worden. Der Neuanfang gelang, „trotz der Wirren des Sozialismus“, wie die Familie über die Nachkriegszeit schrieb, stadtauswärts: in Tolkewitz, Straßenbahnlinie 4, Haltestelle „Johannisfriedhof“. Vom früheren Laden und dem Café ist auch am nunmehrigen Standort kaum noch etwas zu ahnen. Nach 1989 wurde grundlegend modernisiert, doch das Interieur hat längst liebenswürdig Patina angesetzt.
Das ist kein Coffeeshop, will auch keiner sein. Hier darf der Gast ankommen, rasten – muss nicht davonhasten, mit dem „Coffee to go“, den es im Laden für Eilige dennoch gibt. Das Haus zollt der Zeit Tribut und ist sich doch unter der Regie der vierten Generation mit Jens und Synke Gradel treugeblieben. Sie haben im April 2012 den Staffelstab übernommen und einen Onlineshop für die Konditorei- und Pâtisserie-Spezialitäten des Hauses eingerichtet, die national und international Anerkennung eintrugen – von der Goldmedaille beim Culinary Worldcup 2002 in Luxemburg als Angehörige der Nationalmannschaft der Köche Deutschlands bis zum Gewinn des „Battle for the Lion“ in Singapur, vier Jahre später, mit Jens Gradel als Chef-Pâtissier ebenjener Equipe. Dresdner Christstollen, Baum‑, Honig- und alle Arten sonstiger Kuchen und Torten oder Petit Fours muss deshalb bei „Gradel“ niemand missen. Dass hier Schriftsteller oder Künstler zu Stammgästen wurden, ist dennoch nicht überliefert. Nachvollziehen lässt sich das schwer.
Irgendwann ist das Café im „Corona-Jahr“ wieder aufgesperrt, der Stammgast kehrt zurück, ordert – noch an der Auslage, schon aber strahlend – ein Stück Dresdner Eierschecke und eines von der Sachertorte. „Sie kämpfen weiter, Frau Gradel?“ „Na, hilft doch nüscht“, sagt die Seniorchefin. Doch, hilft!