Der Alltagsrezensent

Für den Ein­stieg: der 1975 im Ver­lag „Volk und Welt“ erschie­ne­ne Sam­mel­band „Die Mis­si­on des Luft­bal­lons“, dazu der Text „An den Freund“ in dem bei Rowohlt 1929 ver­öf­fent­lich­ten Aus­wahl-Buch „Schwarz auf Weiß“. Foto: Micha­el Kunze

Vor 150 Jah­ren wur­de der öster­rei­chi­sche Jour­na­list und Kri­ti­ker Alfred Pol­gar geboren

WIEN/BERIN. Die Suche nach einem Haupt­werk wird als ver­geb­li­che enden. Alfred Pol­gar hat kei­nes hin­ter­las­sen. Der spä­te­re „Meis­ter der klei­nen Form“ erblick­te vor 150 Jah­ren in der Wie­ner Leo­pold­stadt das Licht der Welt, am 17. Okto­ber 1873. Der Last, die sol­che Zuschrei­bung trotz Viel­sei­tig­keit mit sich brach­te, wur­de er sich bewusst: „Ich bin“, schrieb er 1951 an Alfred Neu­mann, „seit Jahr und Tag als Feuil­le­to­nist stigmatisiert.“

Zurecht oder nicht: Dar­in liegt der Haupt­grund, war­um sein Name, anders als noch vor drei­ßig, vier­zig Jah­ren, bei vie­len Zeit­ge­nos­sen kaum mehr Asso­zia­tio­nen her­vor­ruft. Weni­ge sind noch am Leben, die sei­ne Tex­te in den Zei­tun­gen gele­sen haben. Also: „War­um und zu wel­chem Ende stu­die­ren wir Alfred Pol­gar?“, schrieb Ulrich Wein­zierl 1977 und rief damit eine Fra­ge in Erin­ne­rung, die schon Kurt Tuchol­sky zu Pol­gars 50. Geburts­tag gestellt hat­te. Sie ist legi­tim geblie­ben. Mitt­ler­wei­le wird man den Sohn des Kla­vier­leh­rers Josef Polak zur Rie­ge jener Klas­si­ker zäh­len müs­sen, die mehr gelobt denn gele­sen wer­den. Vor­an­ge­stellt sei daher eine ande­re: Wer war Pol­gar, der 1914 die­sen Namen hat­te ein­tra­gen las­sen, der im Unga­ri­schen „Bür­ger“ bedeutet?

„Ich habe vie­ler­lei stu­diert und nichts gelernt. War Jour­na­list, Par­la­ments­be­richt­erstat­ter, Thea­ter­kri­ti­ker. Über­sie­del­te 1927 nach Ber­lin und ging 1933 wie­der nach Wien zurück. Beson­de­re Kenn­zei­chen mei­nes Lebens: kei­ne.“ Die­se Selbst­aus­kunft hat­te er 1937 für die Zeit­schrift „Das Wort“ abge­ge­ben. Wer aber woll­te ernst­neh­men, was hier mit gespiel­ter „Selbst­ver­klei­ne­rung“ (Andre­as Nent­wich) von einem der bedeu­tends­ten Feuil­le­to­nis­ten zum Bes­ten gege­ben wurde?

Er stand in einer Rei­he mit nam­haf­ten (Kaf­fee­haus-) Lite­ra­ten, die von Peter Alten­berg über Egon Frie­dell, mit dem er eng befreun­det war, bis zu sei­nem Vor­bild Karl Kraus reich­te. Zeit­le­bens schrie­ben sie „an einem ima­gi­nä­ren Wien-Buch […], in dem sich die Mensch­heit erken­nen muß­te“ (Karin Kathrein).

Dar­in bestand sei­ne eigent­li­che Leis­tung, dar­um stu­die­ren wir Pol­gar: da er etwas vom Men­schen ver­stan­den und tref­fend wie weni­ge zu Papier gebracht hat­te, als Frucht ein­ge­hen­der Beob­ach­tung, tages­ak­tu­ell, ohne Theo­rien auf der Spur zu sein, viel­mehr den Glücks­zu­stän­den und Anfech­tun­gen, Freu­den und Abgrün­den der gro­ßen und viel­leicht mehr noch der ver­meint­lich klei­nen Leu­te. Er „rezen­sier­te den All­tag“, befand Mar­cel Reich-Rani­cki. Pol­gar schau­te oft auf das, was vor­der­grün­dig kei­ne Geschich­te her­ge­ben moch­te: auf die Fas­zi­na­ti­on eines Kin­des über einen Luft­bal­lon, den letz­ten Spa­zier­gang einer Frau mit ihrem Hund, einen Hasen, der als Bra­ten ende­te – und je eine zwei­te, drit­te Ebe­ne davor, dahin­ter, dar­un­ter, dar­über. Unzäh­li­ge sei­ner Feuil­le­tons sind in Sam­mel­bän­den erschie­nen, auch bei dem gro­ßen Damp­fer Rowohlt. Den wohl reprä­sen­ta­tivs­ten Quer­schnitt lie­fert das 1975 bei „Volk und Welt“ her­aus­ge­brach­te Buch „Die Mis­si­on des Luft­bal­lons. Skiz­zen und Erwä­gun­gen“. Her­mann Kes­ten, das wird dar­in deut­lich, nann­te ihn an ande­rer Stel­le einen „deut­schen Sti­lis­ten aus dem alten Öster­reich“. Dabei sei es ein „ein­sa­mes Ver­gnü­gen, ein deut­scher Sti­list von Rang zu sein“.

Was ihn aus­zeich­ne­te, waren – Kaf­ka ähn­lich – absur­de Komik und mora­li­sche Rigo­ro­si­tät. Mit dem „Pra­ger Tag­blatt“, der „Wie­ner All­ge­mei­nen Zei­tung“, der „Schau-“, spä­ter: „Welt­büh­ne“ oder der Zei­tung „Der Mor­gen“ fand er für sei­ne Arbei­ten nam­haf­te Abneh­mer, zöger­te indes nicht, auch klei­nen Häu­sern sei­ne Wor­te in den Blei­satz zu diktieren.

Im Kaf­fee­haus, eine Litho­gra­phie aus dem Jah­re 1929, gese­hen von dem öster­rei­chi­schen Maler, Gra­phi­ker und Schrift­stel­ler Alfred Gers­ten­brand (1881–1977). Foto: Micha­el Kunze

Von 1925 bis 1933 leb­te er über­wie­gend in Ber­lin, da die wirt­schaft­li­chen Per­spek­ti­ven sich nach dem Zer­fall der Dop­pel­mon­ar­chie in sei­ner Geburts­stadt ver­dun­kelt hat­ten. Er schrieb für das „Ber­li­ner Tage­blatt“, bear­bei­te­te und über­setz­te Thea­ter­stü­cke. 1926 erschien Robert Musils Por­trät „Inter­view mit Alfred Pol­gar“ in der „Lite­ra­ri­schen Welt“: „Pol­gar“, heißt es dar­in, „… läßt die Din­ge lau­fen, wie sie behaup­ten, es zu kön­nen; er sieht ihnen bloß zu und beschreibt sie. Aber seit Busch hat nie­mand ihre Mise­re so bos­haft freund­lich beschrie­ben wie er, und offen­bar geht er nur dar­um ins Thea­ter, weil er das Leben dort sucht, wo es am lächer­lichs­ten ist.“ „Die Mil­lio­nä­re der Spra­che sind in ihren Mit­teln am spar­sams­ten.“ (Kes­ten) So wur­de sei­ne „Pro­sa […] zeit­los dar­in, dass sie das Miss­trau­en an sprach­li­chen Über­ein­künf­ten spie­le­risch weckt.“ (Nent­wich)

Als die bit­te­re Lächer­lich­keit und weit über das Metier der Spra­che hin­aus­rei­chen­de „Über­ein­künf­te“ auf der poli­ti­schen Büh­ne über­hand­nah­men, fiel ihm zu Hit­ler „nichts ein“. Pol­gar floh mit sei­ner Frau Eli­se (1891–1973), die er 1929 gehei­ra­tet hat­te, außer Landes.

Begon­nen hat­te er sei­ne jour­na­lis­ti­sche Arbeit schon vor der Jahr­hun­dert­wen­de als idea­lis­ti­scher Anar­chist und Kämp­fer für die Moder­ne. Um 1900 tra­ten psy­cho­lo­gi­sie­ren­de Erzäh­lun­gen hin­zu, die im Kaf­fee­haus­mi­lieu ent­stan­den. Sie wur­den abge­löst von anti­mi­li­ta­ris­ti­schen Tex­ten in waf­fen­klir­ren­der Zeit, Sati­ri­schem, Pazi­fis­ti­schem – wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs, den er mit Ste­fan Zweig im Kriegs­ar­chiv zu Wien absolvierte.

Weni­ge Tage vor dem Reichs­tags­brand ver­lie­ßen die Pol­gars Ber­lin nach Prag. Auch sei­ne Bücher war­fen die Nazis ins Feu­er. Zum 60. Geburts­tag publi­zier­te die Base­ler „Natio­nal-Zei­tung“ einen „Dank an Alfred Pol­gar“ mit Tex­ten der Brü­der Mann, Joseph Roths, Carl See­ligs, Albert Bas­ser­manns, Leo Sle­zaks, Pau­la Wes­se­lys. 1937 ver­fass­te er eine 70-sei­ti­ge Bio­gra­fie über Mar­le­ne Diet­rich, die nie erschien. Über die Schweiz, Frank­reich, Spa­ni­en flo­hen die Pol­gars nach Lis­sa­bon, schiff­ten sich mit Hein­rich und Golo Mann, Franz und Alma Wer­fel nach den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ein. In Hol­ly­wood erhielt er wie Alfred Döblin oder Franz Mehring einen Ver­trag als Dreh­buch­au­tor. Tat­säch­lich tätig wur­de er nicht. Die Stel­len erwie­sen sich als Frucht von Sym­bol­po­li­tik. Konn­te man das aber den Ame­ri­ka­nern vor­wer­fen? Sie hat­ten die Juden nicht ver­trie­ben. Immer­hin floss Ein­kom­men, fand sich oben­drein mit der New Yor­ker Exil­zeit­schrift „Auf­bau“ ein Publi­ka­ti­ons­or­gan. Spä­ter berei­te­te er mit Fried­rich Tor­berg und Leo­pold Schwarz­schild eine deut­sche Aus­ga­be des „Time“-Magazins vor, die nach dem Krieg erschei­nen soll­te. Das Pro­jekt kam über eine Null-Num­mer nicht hin­aus. 73-jäh­rig erhielt er die ame­ri­ka­ni­sche Staatsbürgerschaft.

Dann war der Krieg aus. Pol­gar nahm die Fäden zum Rowohlt-Ver­lag wie­der auf, bereis­te Euro­pa aber erst 1949. Es ging nach Paris, Zürich, Wien, Salz­burg, Mün­chen. Andert­halb Jah­re dau­er­te der Auf­ent­halt auf dem alten Kon­ti­nent, fort­an wech­sel­te er mit sei­ner Frau hin und her. Die Anzie­hungs­kraft des deutsch­spra­chi­gen Raums blieb über­groß, die Skep­sis kaum gerin­ger. Schließ­lich eine spä­te Ehrung durch die Geburts­stadt: Sie ver­lieh ihm den Preis der Stadt Wien für Publi­zis­tik. Er schrieb wie­der Kritiken.

Am 23. April 1955 schloss er in sei­nem Zür­cher Hotel den Text „Drei Thea­ter­aben­de in Deutsch­land“ ab. Er war für Tor­bergs Wie­ner Zeit­schrift „Forum“ bestimmt. Tags dar­auf ein Herz­in­farkt, schnell ein zwei­ter. Den Not­arzt hat­te er noch ver­stän­di­gen kön­nen. Doch er starb und wur­de im Mai in Zürich beigesetzt.

Alfred Pol­gars Todes­schein, aus­ge­stellt im Zivil­stands­kreis Zürich. Foto: Micha­el Kunze

Schon 1929, vor dem gro­ßen Wahn­sinn, hat­te er den Aus­wahl-Band „Schwarz auf Weiß“ ver­öf­fent­licht, dar­in der Text „An den Freund“. Es ist einer sei­ner schöns­ten, blei­bend: „Du kennst die fei­ne­ren Tech­ni­ken der Freund­schaft“, notier­te er, „das Aus­wei­chen, das Nicht-Fra­gen, die recht­zei­ti­ge Blind­heit und Ertau­bung. Du läßt dem Freund nicht Gerech­tig­keit wider­fah­ren, wie sie Dei­ne Geset­ze sta­tu­ie­ren, son­dern dul­dest, daß er nach sei­nen Geset­zen irre. Du ziehst ihm nicht die Krü­cken weg, an denen er hum­pelt, zer­störst nicht das wun­der­bar kom­pli­zier­te, kunst­voll gefüg­te Sys­tem von Miß­ver­ständ­nis­sen und Täu­schun­gen, in das sein Leben ein­ge­floch­ten ist.“ Tie­fe und Schön­heit, idea­li­siert, über drei­ein­halb Sei­ten hin­weg, die zwar aus Men­schen­kennt­nis gebro­chen, doch beschlos­sen wer­den damit, dass „schon der Gedan­ke, daß es Dich, und zwar ohne jede Sus­pen­die­rung der Natur­ge­set­ze, doch eigent­lich ganz gut geben könn­te“, Trost­rei­ches habe.

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