Eidgenössisches Kanton war preußisches Fürstentum

Blick von der Ter­ras­se vor Neu­en­bur­ger Kol­le­giat­kir­che und Schloss auf Stadt und See, dahin­ter die mil­de anstei­gen­den Berg­ket­ten. Foto: Micha­el Kunze

Man­cher Bruch ist der Stadt am größ­ten See auf schwei­ze­ri­schem Ter­ri­to­ri­um wider­fah­ren. Lebens­wert blieb sie dennoch.

NEUENBURG. Neu­châ­tel auf einen Nach­mit­tag, wie wir es uns vor­ge­nom­men haben – das ist ein ambi­tio­nier­tes Unter­fan­gen; wir ver­su­chen es den­noch und ent­stei­gen dem Wagen am Ufer des gleich­na­mi­gen Sees in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft des Hotels „Beau-Rivage“. „La Pas­se­rel­le de l’Utopie“ ist jener Steg getauft, der hier auf die wei­te, opa­len schim­mern­de Was­ser­flä­che hin­aus­ragt und, bei wol­ken­ver­han­ge­nem Him­mel, bezau­bern­de Schau nach Süden und Wes­ten zulässt. Zurück auf der Pro­me­na­de, dem Quai Oster­vald, bege­ben wir uns, die bei­na­he mari­ti­me Stim­mung mit Herz und Sin­nen auf­neh­mend, in nord­öst­li­cher Rich­tung zum klei­nen Hafen.

Nach Neu­châ­tel im schwei­ze­ri­schen Nord­wes­ten reist es sich auch ohne Plä­ne for­mi­da­bel. Wir sind davon über­zeugt, noch ehe es uns ins Stadtin­ne­re hin­ein­ge­zo­gen hat. Nie­mand muss sich auf die 44.500-Einwohner-Stadt in der Roman­die vor­be­rei­ten. Sie emp­fängt, wie alle Grün­dun­gen an prä­gen­den Flüs­sen oder Seen, über­reich­lich viel vom Naturraum.

Wer indes einem Besuch mit Lek­tü­re vor­baut, wird in Deutsch­land heu­te kaum mehr Bekann­tes in Erfah­rung brin­gen, etwa, dass die Stadt bis 1848 „ein staats­po­li­ti­sches Kurio­sum“ dar­stell­te, „ein eid­ge­nös­si­scher Kan­ton und zugleich noch preu­ßi­sches Fürs­ten­tum“ (Fritz Schaf­fer), das exis­tier­te, bis sich die Bür­ger­schaft eine repu­bli­ka­ni­sche Ver­fas­sung gab. Das Unter­fan­gen hat­te im Zuge eines roya­lis­ti­schen Auf­stands gegen die neu­en Umstän­de diplo­ma­ti­sche Ver­wick­lun­gen zur Fol­ge. Denn eini­ge der Initia­to­ren wur­den fest­ge­setzt, und zwi­schen der Schweiz und Preu­ßen, des­sen König den Land­strich 1707 geerbt hat­te, droh­te Krieg her­auf­zu­zie­hen. Fran­zö­si­sche Ver­mitt­lung bewahr­te den Frie­den zwar, und das preu­ßi­sche Königs­haus ver­zich­te­te auf sei­ne Rech­te. Das galt jedoch nicht für die Titel, sodass noch 1912 Kai­ser Wil­helm II. bei einem Staats­be­such in Zürich „in der sonst unbe­kann­ten Uni­form sei­nes eins­ti­gen Neu­en­bur­ger Schüt­zen­ba­tail­lons“ auf­ge­tre­ten ist (Richard Zürcher).

Zahl­rei­che Adels­ti­tel in der Stadt sol­len preu­ßi­schen Ursprungs sein, und wer vor­mals auf den Namen „von Wun­der­lich“ hör­te, soll sich fort­an „de Mer­veil­leux“ genannt haben. Was davon der tat­säch­li­chen his­to­ri­schen Ent­wick­lung ent­spricht, kön­nen wir nicht prü­fen. Der­lei Geschich­ten, die wir in Mar­git Wag­ners vor­züg­li­chem Jura-Füh­rer (1987) gele­sen haben, las­sen sich aber nach wie vor mit Amü­se­ment zum Bes­ten geben.

Wir ste­hen noch immer am Hafen. Die Vier­tel hier schmie­gen sich eben­mä­ßig an den See. Denn vor die mit­tel­al­ter­li­che Stadt hat sich das Ufer immer wei­ter in den größ­ten, voll­stän­dig auf schwei­ze­ri­schem Ter­ri­to­ri­um lie­gen­den See hin­ein­ge­scho­ben. Der auf­merk­sa­me Betrach­ter nimmt beim Blick auf die Höhen­zü­ge dies Flach­land, das sich zwi­schen ers­te­re und die Was­ser­flä­che in ver­schie­de­nen Pha­sen der Land­ge­win­nung aus­brei­te­te, gut wahr. Der Haus­berg Chau­mont im Nor­den gewann nach den Auf­schüt­tun­gen Abstand. Stra­ßen, Plät­ze, Pro­me­na­den wur­den dem See im spä­ten 19. Jahr­hun­dert abge­won­nen. Die vor­dem pro­me­nie­ren­den Palais, deren Parks oder Gär­ten bis ans Ufer lang­ten, ran­gie­ren seit­her in zwei­ter Reihe.

Wir bie­gen nun in Rich­tung Alt­stadt ab, las­sen den See, an dem die Kan­to­ne Bern, Frei­burg, Neu­en­burg und Waadt zusam­men­tref­fen, in unserm Rücken. Von der Rue de l’Hôtel-de-Ville, vor­bei am klas­si­zis­ti­schen Rat­haus mit den mäch­ti­gen, vor­ge­setz­ten Säu­len, las­sen wir uns durch die von Ein­hei­mi­schen und zahl­lo­sen Tou­ris­ten pul­sie­ren­den Gas­sen hin­ein­sau­gen in die Alt­stadt. Über die Rue de l‘Hôpital, die hin­ter dem Rat­haus nach Wes­ten abzweigt, und ihre Ver­län­ge­run­gen gera­ten wir auf einen klei­nen Platz. Jeden­falls erscheint er uns als sol­cher. Tat­säch­lich han­delt es sich um eine Gabe­lung, von der nach Nord­wes­ten die Rue du Châ­teau schnell an Höhe gewinnt. Wir las­sen sie rechts lie­gen und neh­men über Stie­gen und klei­ne Gas­sen, vor­bei an einem blu­men­ge­schmück­ten Brünn­lein, den Weg hin­auf zu Schloss und Kollegiatkirche.

Im Gewirr der Alt­stadt­gas­sen, rechts der Tour de Dies­se. Foto: Micha­el Kunze

Auf der von dem mas­si­gen, viel­be­türm­ten und in auf­fäl­lig gel­bem Sand­stein auf­ge­mau­er­ten Got­tes­haus domi­nier­ten Espla­na­de, die einst Gär­ten und Fried­hof auf­nahm, ras­ten wir. Vor dem Haupt­por­tal hebt die Sta­tue eines Man­nes mit Barett und wehen­den Klei­dern aus deut­lich hel­le­rem Mate­ri­al, das Buch der Bücher in Hän­den die­sel­ben gen Him­mel. „A Guil­laume Farel – Refor­ma­teur“, heißt es auf dem Sockel. Nach einer Pre­digt des refor­mier­ten Theo­lo­gen, der seit 1538 die Stadt bis zu sei­nem Lebens­en­de zum Wohn- und Arbeits­ort wähl­te, sind acht Jah­re zuvor wei­te Tei­le des Kir­chen­in­ven­tars unter Betei­li­gung von Pries­tern von einer Volks­men­ge zer­stört worden.

Farel, Sor­bon­ne-Absol­vent und Sohn eines päpst­li­chen Notars, wird als unge­mein mit­rei­ßen­der Pre­di­ger beschrie­ben. Er gewinnt Stadt und Regi­on für die Refor­mier­ten. Das Kir­chen­in­ne­re der „Col­le­gia­le“, die einst der Got­tes­mut­ter geweiht war und mit deren Bau im spä­ten 12. Jahr­hun­dert begon­nen wor­den war, wirkt ganz im Sin­ne der cal­vi­nis­ti­schen Leh­re nüch­tern und schlicht, zeugt aber zugleich von einem har­mo­ni­schen Über­gang von der Roma­nik zur Früh­go­tik. Aus­nah­men stel­len der von gold­gel­ben Ster­nen über­sä­te, dun­kel­blau in die Decken­ge­wöl­be gemal­te „Him­mel“ dar und der größ­te und „figu­ren­reichs­te Keno­taph der Vor­re­nais­sance im euro­päi­schen Nor­den“ (Jean Cour­voi­sier). Er ist den Gra­fen von Neu­en­burg gewid­met. Zwölf Sta­tu­en von Rit­tern und Damen aus dem 14. sowie drei aus 15. Jahr­hun­dert hal­ten die Hän­de demü­tig zum Gebet gefal­tet. Das Werk ist bei den Aus­schrei­tun­gen von 1530 beschä­digt und spä­ter hin­ter Holz­ta­feln ver­bor­gen wor­den. 1840 hat man es restauriert.

Sucht sei­nes­glei­chen nörd­lich der Alpen: der Keno­taph für die Gra­fen von Neu­en­burg. Foto: Micha­el Kunze

Über den Kreuz­gang ver­las­sen wir die Kir­che, umrun­den sie und ste­hen bereits vor dem mas­si­gen Bau des zwei Höfe umschlie­ßen­den Schlos­ses mit dop­pel­tür­mi­gem Tor, der sich in direk­ter Nach­bar­schaft befin­det. Bis Ende des 15. Jahr­hun­derts resi­dier­ten am Ort die Gra­fen von Neu­en­burg, anschlie­ßend bis 1848 Gou­ver­neu­re. Seit­her ist etwa die Kan­tons­ver­wal­tung dar­in unter­ge­bracht. Wir las­sen die wuch­ti­ge Anla­ge mit roma­ni­scher Fens­ter­ga­le­rie und Wehr­gang links lie­gen und tre­ten auf eine Ter­ras­se vor der Kir­che, von der aus sich ein bezau­bern­der Blick über Dächer hin­weg zum See mit den dahin­ter­lie­gen­den Berg­ket­ten bietet.

Schließ­lich stei­gen wir über Gas­sen und Stie­gen auf anderm Weg wie­der hin­ab in die Stadt, hal­ten jedoch auf hal­ber Stre­cke inne vor „Le Cabi­net d’Amateur“, einem Anti­qua­ri­at von beacht­li­cher Viel­falt. Unter einer Gewöl­be­ton­ne ragt es tief hin­ein in ein Haus am Hang. Bücher vie­ler Epo­chen und The­men all­über­all, teils auf mäch­ti­ge Stö­ße geschich­tet, an Wän­den, auf Rega­len, die sich durch den Raum zie­hen und auf dem Boden, dazwi­schen Kup­fer­stich­land­kar­ten des 17., 18., 19. Jahr­hun­derts dra­piert, auch mit hei­mat­li­chen, säch­si­schen Geo­gra­phien, die Decke über war­mem Licht von eigen­ar­ti­gen Schrift­zei­chen über­säht, die wir in der Kür­ze der Zeit nicht zu ent­schlüs­seln ver­ste­hen. Der Wer­mutstro­pen: Deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur ist rar im Bestand.

Den­noch beglückt, wan­dern wir den Hügel hin­ab, vor­über am „Tour de Dies­se“. Erst am spä­ten Nach­mit­tag neh­men wir auf einem von Loka­len über­sä­ten Markt­platz das Mit­tag­essen im Café des Hal­les ein. Es ist unter­ge­bracht in einem gotisch kon­zi­pier­ten, mit Dekor der Renais­sance ver­se­he­nem Pro­fan­bau aus dem 16. Jahr­hun­dert, bekrönt von Türm­chen und Erkern im Ber­ner Stil. Tuche und Getrei­de wur­den hier einst ver­kauft. Es ist ein Wahr­zei­chen der Bür­ger­stadt. End­lich gestärkt, neh­men wir die weni­gen Hun­dert Meter zurück zum Park­haus, hal­ten zuvor jedoch noch ein­mal, um über den wei­ten See in die Abend­son­ne zu blinzeln.

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