Mancher Bruch ist der Stadt am größten See auf schweizerischem Territorium widerfahren. Lebenswert blieb sie dennoch.
NEUENBURG. Neuchâtel auf einen Nachmittag, wie wir es uns vorgenommen haben – das ist ein ambitioniertes Unterfangen; wir versuchen es dennoch und entsteigen dem Wagen am Ufer des gleichnamigen Sees in unmittelbarer Nachbarschaft des Hotels „Beau-Rivage“. „La Passerelle de l’Utopie“ ist jener Steg getauft, der hier auf die weite, opalen schimmernde Wasserfläche hinausragt und, bei wolkenverhangenem Himmel, bezaubernde Schau nach Süden und Westen zulässt. Zurück auf der Promenade, dem Quai Ostervald, begeben wir uns, die beinahe maritime Stimmung mit Herz und Sinnen aufnehmend, in nordöstlicher Richtung zum kleinen Hafen.
Nach Neuchâtel im schweizerischen Nordwesten reist es sich auch ohne Pläne formidabel. Wir sind davon überzeugt, noch ehe es uns ins Stadtinnere hineingezogen hat. Niemand muss sich auf die 44.500-Einwohner-Stadt in der Romandie vorbereiten. Sie empfängt, wie alle Gründungen an prägenden Flüssen oder Seen, überreichlich viel vom Naturraum.
Wer indes einem Besuch mit Lektüre vorbaut, wird in Deutschland heute kaum mehr Bekanntes in Erfahrung bringen, etwa, dass die Stadt bis 1848 „ein staatspolitisches Kuriosum“ darstellte, „ein eidgenössischer Kanton und zugleich noch preußisches Fürstentum“ (Fritz Schaffer), das existierte, bis sich die Bürgerschaft eine republikanische Verfassung gab. Das Unterfangen hatte im Zuge eines royalistischen Aufstands gegen die neuen Umstände diplomatische Verwicklungen zur Folge. Denn einige der Initiatoren wurden festgesetzt, und zwischen der Schweiz und Preußen, dessen König den Landstrich 1707 geerbt hatte, drohte Krieg heraufzuziehen. Französische Vermittlung bewahrte den Frieden zwar, und das preußische Königshaus verzichtete auf seine Rechte. Das galt jedoch nicht für die Titel, sodass noch 1912 Kaiser Wilhelm II. bei einem Staatsbesuch in Zürich „in der sonst unbekannten Uniform seines einstigen Neuenburger Schützenbataillons“ aufgetreten ist (Richard Zürcher).
Zahlreiche Adelstitel in der Stadt sollen preußischen Ursprungs sein, und wer vormals auf den Namen „von Wunderlich“ hörte, soll sich fortan „de Merveilleux“ genannt haben. Was davon der tatsächlichen historischen Entwicklung entspricht, können wir nicht prüfen. Derlei Geschichten, die wir in Margit Wagners vorzüglichem Jura-Führer (1987) gelesen haben, lassen sich aber nach wie vor mit Amüsement zum Besten geben.
Wir stehen noch immer am Hafen. Die Viertel hier schmiegen sich ebenmäßig an den See. Denn vor die mittelalterliche Stadt hat sich das Ufer immer weiter in den größten, vollständig auf schweizerischem Territorium liegenden See hineingeschoben. Der aufmerksame Betrachter nimmt beim Blick auf die Höhenzüge dies Flachland, das sich zwischen erstere und die Wasserfläche in verschiedenen Phasen der Landgewinnung ausbreitete, gut wahr. Der Hausberg Chaumont im Norden gewann nach den Aufschüttungen Abstand. Straßen, Plätze, Promenaden wurden dem See im späten 19. Jahrhundert abgewonnen. Die vordem promenierenden Palais, deren Parks oder Gärten bis ans Ufer langten, rangieren seither in zweiter Reihe.
Wir biegen nun in Richtung Altstadt ab, lassen den See, an dem die Kantone Bern, Freiburg, Neuenburg und Waadt zusammentreffen, in unserm Rücken. Von der Rue de l’Hôtel-de-Ville, vorbei am klassizistischen Rathaus mit den mächtigen, vorgesetzten Säulen, lassen wir uns durch die von Einheimischen und zahllosen Touristen pulsierenden Gassen hineinsaugen in die Altstadt. Über die Rue de l‘Hôpital, die hinter dem Rathaus nach Westen abzweigt, und ihre Verlängerungen geraten wir auf einen kleinen Platz. Jedenfalls erscheint er uns als solcher. Tatsächlich handelt es sich um eine Gabelung, von der nach Nordwesten die Rue du Château schnell an Höhe gewinnt. Wir lassen sie rechts liegen und nehmen über Stiegen und kleine Gassen, vorbei an einem blumengeschmückten Brünnlein, den Weg hinauf zu Schloss und Kollegiatkirche.
Auf der von dem massigen, vielbetürmten und in auffällig gelbem Sandstein aufgemauerten Gotteshaus dominierten Esplanade, die einst Gärten und Friedhof aufnahm, rasten wir. Vor dem Hauptportal hebt die Statue eines Mannes mit Barett und wehenden Kleidern aus deutlich hellerem Material, das Buch der Bücher in Händen dieselben gen Himmel. „A Guillaume Farel – Reformateur“, heißt es auf dem Sockel. Nach einer Predigt des reformierten Theologen, der seit 1538 die Stadt bis zu seinem Lebensende zum Wohn- und Arbeitsort wählte, sind acht Jahre zuvor weite Teile des Kircheninventars unter Beteiligung von Priestern von einer Volksmenge zerstört worden.
Farel, Sorbonne-Absolvent und Sohn eines päpstlichen Notars, wird als ungemein mitreißender Prediger beschrieben. Er gewinnt Stadt und Region für die Reformierten. Das Kircheninnere der „Collegiale“, die einst der Gottesmutter geweiht war und mit deren Bau im späten 12. Jahrhundert begonnen worden war, wirkt ganz im Sinne der calvinistischen Lehre nüchtern und schlicht, zeugt aber zugleich von einem harmonischen Übergang von der Romanik zur Frühgotik. Ausnahmen stellen der von goldgelben Sternen übersäte, dunkelblau in die Deckengewölbe gemalte „Himmel“ dar und der größte und „figurenreichste Kenotaph der Vorrenaissance im europäischen Norden“ (Jean Courvoisier). Er ist den Grafen von Neuenburg gewidmet. Zwölf Statuen von Rittern und Damen aus dem 14. sowie drei aus 15. Jahrhundert halten die Hände demütig zum Gebet gefaltet. Das Werk ist bei den Ausschreitungen von 1530 beschädigt und später hinter Holztafeln verborgen worden. 1840 hat man es restauriert.
Über den Kreuzgang verlassen wir die Kirche, umrunden sie und stehen bereits vor dem massigen Bau des zwei Höfe umschließenden Schlosses mit doppeltürmigem Tor, der sich in direkter Nachbarschaft befindet. Bis Ende des 15. Jahrhunderts residierten am Ort die Grafen von Neuenburg, anschließend bis 1848 Gouverneure. Seither ist etwa die Kantonsverwaltung darin untergebracht. Wir lassen die wuchtige Anlage mit romanischer Fenstergalerie und Wehrgang links liegen und treten auf eine Terrasse vor der Kirche, von der aus sich ein bezaubernder Blick über Dächer hinweg zum See mit den dahinterliegenden Bergketten bietet.
Schließlich steigen wir über Gassen und Stiegen auf anderm Weg wieder hinab in die Stadt, halten jedoch auf halber Strecke inne vor „Le Cabinet d’Amateur“, einem Antiquariat von beachtlicher Vielfalt. Unter einer Gewölbetonne ragt es tief hinein in ein Haus am Hang. Bücher vieler Epochen und Themen allüberall, teils auf mächtige Stöße geschichtet, an Wänden, auf Regalen, die sich durch den Raum ziehen und auf dem Boden, dazwischen Kupferstichlandkarten des 17., 18., 19. Jahrhunderts drapiert, auch mit heimatlichen, sächsischen Geographien, die Decke über warmem Licht von eigenartigen Schriftzeichen übersäht, die wir in der Kürze der Zeit nicht zu entschlüsseln verstehen. Der Wermutstropen: Deutschsprachige Literatur ist rar im Bestand.
Dennoch beglückt, wandern wir den Hügel hinab, vorüber am „Tour de Diesse“. Erst am späten Nachmittag nehmen wir auf einem von Lokalen übersäten Marktplatz das Mittagessen im Café des Halles ein. Es ist untergebracht in einem gotisch konzipierten, mit Dekor der Renaissance versehenem Profanbau aus dem 16. Jahrhundert, bekrönt von Türmchen und Erkern im Berner Stil. Tuche und Getreide wurden hier einst verkauft. Es ist ein Wahrzeichen der Bürgerstadt. Endlich gestärkt, nehmen wir die wenigen Hundert Meter zurück zum Parkhaus, halten zuvor jedoch noch einmal, um über den weiten See in die Abendsonne zu blinzeln.