Eine Biographie würdigt den großen Kulturvermittler Italiens, Reinhard Raffalt, zu dessen 100. Geburtstag.
PASSAU/MÜNCHEN/ROM. Am 16. Juni 1976 starb mit Reinhard Raffalt der Deuter romanischer Welt in bundesrepublikanischer Nachkriegszeit. Er stand in einer Reihe mit den beiden Curtius, mit Hausenstein, Peterich, Sieburg, die er an Vielseitigkeit übertroffen hat. Dennoch ist Raffalt weithin vergessen. Dass sein 100. Geburtstag jüngst in München und Passau unter beachtlicher Anteilnahme begangen wurde, täuscht darüber nicht hinweg. Allein sein Frühwerk, der Sprachführer „Eine Reise nach Neapel – e parlare italiano“ wird noch gedruckt – in 24. Auflage.
Einst alles anders: Bei seinem Tode war der am Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz geborene und beigesetzte Journalist und Musiker – ohne Übertreibung – einem Millionenpublikum bekannt; Beileidsadressen aus aller Herren Länder, aus Politik, Kultur, Klerus erreichten die Angehörigen. Mit seinen Fernsehreportagen, Radiofeuilletons, Buch- und Zeitungsveröffentlichungen hatte er eine verbreitete Sehnsucht aufzugreifen verstanden, die sich im Anschluss an die totale Selbstpreisgabe Deutschlands unter Hitler nach Rückverankerung im Abendland sehnte. Wie er sie ins Wort setzte, lässt sich in einem seiner kürzesten Bücher erspüren, einer Meditation über Tod und Beisetzung Pius‘ XII.
„Homo erat paterfamilias“, jene sprechende Passage des Matthäusevangeliums – er konnte nicht anders, als sie in „Ein Römischer Herbst“ (1958) auf den von ihm verehrten Pontifex zu beziehen. Man muss dies Buch in aller Stille laut lesen, um den Takt aufzunehmen, den er anzuschlagen suchte. Bis heute ist in deutscher Sprache kein solches Werk mehr erschienen. Dessen Zauber sich hinzugeben, der in kurzen Zitaten nicht darzutun wäre, nimmt den gestimmten Leser hinein in eine Schau voller Poesie und Innigkeit, in den Nachvollzug der aus dem Inhalt gegossenen Form, die Raffalt auch am Papsttum des zwölften Pius so schätzte.
Der aus dem Chiemgau stammende, in München wirkende Historiker Julian Traut hat mit „Ein Leben für die Kultur“ die nun erweiterte Fassung seiner bebilderten Biografie vorgelegt, die Raffalt zugänglich macht wie bislang keine. Auch die Gründe für dessen in den 1960er-Jahren abnehmende Strahlkraft werden erläutert. Traut schildert nach Durchsicht zahlreicher Quellen die Herkunft aus liberaler Passauer Bildungswelt – der Vater Zeitungsverleger, die Mutter aus mährischem Landadel. Leistungswille, ästhetisches Gespür, Selbstbewusstsein im ganzen Sinne des Wortes – die Eltern mögen sie ihm in die Wiege gelegt haben.
Der Autor berichtet von frühem Orgelunterricht, der 1942 in ein Studium bei Thomaskantor Günther Ramin mündete. Das Deutschland, in dem der 19-Jährige seine Gaben zur Reife zu bringen suchte, forderte indes keine Organisten, sondern Kämpfer im Weltanschauungskrieg. Der Junge hatte Glück: Ein Oberst entsandte ihn zu musikalischer Truppenbetreuung nach Belgien und Frankreich. Raffalt konzertierte in Bourges, Dijon, Reims. Eine Ausbildung zum Krankenträger folgte, schließlich doch Fronteinsätze, bis ihn 1945 ein Granatsplitter derart zurichtete, dass er das Kriegsende in einem Lazarett erlebte.
An die Wiederaufnahme der Studien in Sachsen war nicht zu denken. So schrieb er sich ein an der heimischen Hochschule: für Geschichte des Mittelalters und scholastische Philosophie; er leitete den Passauer Singkreis. Herkunft, Studium, Ehrenamt deuteten an, woran fortan sein Herz hängen würde; 1950 schließlich die Promotion in Tübingen zur Programmmusik.
Traut fügt seiner thematisch und chronologisch gegliederten Arbeit (was teils zu Wiederholungen führt) im Anhang zahlreiche Briefe bei – etwa den Austausch mit dem 17-jährigen Reinhard Marx, der sich als Konservativer auswies. Der nunmehrige Erzbischof steuerte zudem ein Geleitwort bei, in dem er auslotet, was ihm Konservatismus und Barock heute bedeuten. Wir finden im Buch eine Liste sämtlicher, von Raffalt für den BR produzierter Fernsehfilme und Hörfunksendungen, die zeigen, dass dieser sich nicht mit Italien „begnügte“, sondern auch Deutschland in den Fokus nahm, Spanien, viele Länder Südamerikas, Afrikas, Asiens.
Wie aber gelangte er an das Sehnsuchtsziel vieler Deutscher, dessen Ausdeutung ihn hierzulande so berühmt machte? Schon 1949 war er mit Kommilitonen zu einer Reise aufgebrochen, besuchte Padua, musizierte in Kirchen. „Dies“, schreibt Traut, „markierte den Beginn einer innigen Beziehung“, die nicht abriss. Raffalt heuerte als freier Mitarbeiter beim BR an, verfasste erste „Hörbilder“ – der Auftakt mehr als 30 Jahre währender Zusammenarbeit. 200 Rundfunksendungen und 30 Filme gingen daraus hervor. Er holte seinem Publikum wenig bekannte Welten ins Wohnzimmer, schilderte Zusammenhänge zwischen Geschichte, Philosophie und Kunst in Antike, Renaissance, Barock.
Mit welcher Stimme – um einen Eindruck zu gewinnen, sei auf im Internet verfügbare Beiträge zum Nachhören verwiesen (QR-Code zum BR im Buch)! Wärme, Souveränität, Kultiviertheit strahlt sie aus. Raffalt bezeugte, woraus er schöpfte. Er war kein oberflächlicher Unterhalter, formulierte dicht und anspruchsvoll.
Warum er 1951 seinen Wohnsitz in Rom nahm, lässt sich nicht mehr vollends klären. Nahe liegt die Neugier eines jungen Mannes auf den kosmopolitischen Charme der Großstadt im Süden, zugleich Zentrum des Katholizismus, dem er sich religiös und kulturell tief verhaftet sah.
Es brauchte Zeit, ökonomisch fußzufassen; Gönner halfen. Vom zwar wohlklingenden, doch wenig einträglichen Titel eines Rom- und Vatikankorrespondenten für die Münchner „Neue Zeitung“, dazu Arbeiten für das Heimatblatt ließ sich nicht leben, angesichts von bald kostspieliger Wohnung in bester Lage, teurem Sportwagen, repräsentativen Verpflichtungen.
Dass er sich der CSU nahefühlte, war kein Geheimnis. Zahllose Kontakte legten Zeugnis davon ab. Beigetreten ist er der Partei nie; er schätzte die Unabhängigkeit. Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, nutzte er sein musikalisches Talent. Es brachte ihm eine Stelle als Organist an der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell‘ Anima. Er warb Mittel ein für Konzertformate, die sich gegenüber Rundfunkanstalten lancieren ließen. Bald unterrichtete er am Collegium Germanicum et Hungaricum Kirchenmusik, leitete Chor und Orchester des Jesuitenkollegs, fand Zutritt zu höchsten Kreisen. Vor Kraft zu sprühen, schien er, angetrieben vom Zuspruch, wie sich herausstellen sollte: zulasten seiner Gesundheit.
Einstweilen ging es voran: Raffalt gründete die Deutsche Bibliothek in Rom und die Römische Bach-Gesellschaft. Sein kulturinstitutionelles Werk, das ihn auch beim Auswärtigen Amt in Lohn und Brot brachte, stand Pate für die Gründung der Goethe-Institute. Die im Prestel-Verlag herausgebrachten Rom-Bände wurden große Erfolge.
Obendrein nahm er zu kirchenpolitischen Fragen Stellung. Als brisant erwies sich der vielbeachtete Band „Wohin steuert der Vatikan?“ (1973), strotzend vor Kritik an der Öffnungspolitik Pauls VI. gegenüber den sozialistischen Staaten, die der Antikommunist als Appeasement verwarf. Raffalt, neben Pius auch Johannes XXIII. zugetan, fand zu ihrem Nachfolger keinen Anschluss. Er ging mit dessen Liturgiereform ins Gericht, hielt ihr den Ausverkauf des Lateinischen vor, Banalisierung des Heiligen.
Dem Barockmenschen kam das Barock abhanden. Was er erfahrbar zu machen suchte: den Anspruch, alle Bezirke des Lebens – Religion, Brauchtum, Architektur, Literatur, bildende Kunst, Musik – aus einem Leitmotiv abzuleiten und darauf zurückzuführen, so, wie es von und mit der Kirche bis ins 20. Jahrhundert versucht worden war, sah er preisgegeben. Dieses „Römische Prinzip“, aus der Antike über das Mittelalter in die Neuzeit überliefert, nördlich der Alpen anverwandelt – es war im Falle. Schmerzlich hatte er dies erkennen müssen.
Mit der Epochenwende fiel, tragischerweise, sein eigenes Ende zusammen. Er starb, von rastloser Arbeit ausgezehrt, nur 53-jährig wenige Stunden nach der Hochzeit mit Nina Bertram. Aus dem Füllhorn seines Werkes, das Julian Traut uns aufschließt, lässt sich dennoch weiterhin mit Genuss kosten.
Julian Traut: Ein Leben für die Kultur. Reinhard Raffalt (1923–1976) zwischen Bayern, Deutschland und Italien. Verlag Friedrich Pustet, 2. erweiterte Aufl., Regensburg 2023, Hardcover, 312 Seiten, EUR 39,95.