Kunze macht sich auf den Weg

Ein­fach mal los­fah­ren. Zu einem Ort, irgend­wo, ganz egal. Da wird schon etwas sein. Oder nicht?

Alles hät­te so schön wer­den kön­nen. Plä­ne fürs Wochen­en­de waren gemacht, Ver­ab­re­dun­gen getrof­fen. Dann das: Zwei Stun­den vor Fei­er­abend kommt der Chef. Ich soll nach Königs­moos. Irgend­ein Nest in der ober­baye­ri­schen Ein­öde. Was soll ich da? Kei­ne Ahnung, sagt der Chef. Eine Geschich­te fin­den. Mich fin­den las­sen. Das Ziel hat ein Dart­pfeil gewählt. Kei­ner hier kennt Königsmoos.

Manch­mal kann ich mich ganz schön auf­re­gen. Heu­te ist es wie­der so weit. Was soll ich in Königs­moos? Der Chef hat schon am ers­ten Tag behaup­tet, dass ich nur Poli­to­lo­gie stu­diert habe, weil ich nicht arbei­ten will. Wider­re­de uner­wünscht. So ist das Leben am unte­ren Ende der Nah­rungs­ket­te. Genera­ti­on Plankton.

Schon die Anfahrt gibt mir recht: Es fährt kein Zug nach Königs­moos, nur ein Bus. Den ich ver­pas­se. Er ver­kehrt nur ein­mal täg­lich. Also neh­me ich den Zug nach Neu­burg, das ist immer­hin in der rich­ti­gen Gegend. Dort muss man über die Glei­se stei­gen. Kei­ne Unter­füh­rung, kei­ne Brü­cke. Ich fra­ge im Zei­tungs­la­den nach einem Bus. „Gibt es nicht“, ist die Ant­wort. „Neh­men Sie ein Taxi! Wenn eins dasteht.“

Eins steht da. Die Frau am Steu­er kommt schnell zur Sache. Was ich im Moos wol­le? „Los is do nix, do is scho man­cher eig­schlafn – und nim­mer auf­gwacht, so lang­wei­lig is dor­ten.“ Die Fahrt zieht sich. Fel­der glei­ten vor­über. Mais, Rüben, Getrei­de – und Kar­tof­feln. Und Kar­tof­feln. Und noch mehr Kar­tof­feln. Zwi­schen den Kar­tof­feln schwar­ze Erde. Wie Vulkanasche.

Wir errei­chen Königs­moos. Kein Super­markt, kei­ne Geschäf­te, kei­ne Tank­stel­le. Nur ein Tan­te-Emma-Bäcker, Rat­haus, Schu­le, Spar­kas­se. Klei­ne Bau­ern­hö­fe, Ein­fa­mi­li­en­häu­ser, wie Dop­pel­per­len an einer Schnur – Königs­moos ist ein Stra­ßen­dorf. Das Land ist flach, die Stra­ßen zei­gen geradeaus.

Das Taxi fährt nach Lud­wigs­moos, ein Orts­teil. Hier harrt ein Zim­mer mei­ner. Im Gast­hof Kraus. Eine Trep­pe führt hin­auf, drin­nen erwar­tet mich die Wir­tin. Sie fragt, wie lan­ge ich blei­ben will. Kei­ne Ahnung. Ich darf erst zurück, wenn ich die­se blö­de Geschich­te habe. Oder sie mich. Sonst muss ich für immer bleiben.

Vier Frem­den­zim­mer gibt es, seit 1926 hat hier kein Gast mehr als eine Nacht ver­bracht. Die Wir­tin fragt ent­geis­tert, war­um aus­ge­rech­net ich län­ger ver­wei­len möch­te. Ich muss doch! Ich nut­ze die Gele­gen­heit, mei­nen Chef anzu­pran­gern. Die Wir­tin lacht schal­lend, wie zuvor die Taxi­fah­re­rin. Ich füh­le, dass sie mit mir fühlt. Wie eine Mut­ter. Fühlt sich gut an. End­lich jemand, der mich versteht.

„Über was soll ich hier schrei­ben?“, fle­he ich. „Gute Fra­ge“, sagt sie. „Eigent­lich gibt’s hier nur das Moos. Tro­cken­ge­leg­tes Moor. Land­wirt­schaft. Moos­kar­tof­feln.“ Jeder, der kommt, sagt, dass er das ers­te Mal hier ist. Ich über­le­ge, was das bedeu­tet. Doch wohl, dass kei­ner zurück­kehrt? Ich soll den Bür­ger­meis­ter fra­gen. Und den Stamm­tisch aus­for­schen, der trifft sich abends im Biergarten.

Eine Fra­ge hab ich noch. Wie­so heißt der Pfar­rer Nar­alak­kat­tu­kun­nel? Das weiß ich aus dem Inter­net. Na-ra-lak-kat-tu-kun-nel. Grüß Gott, Herr Pfar­rer. Ich hab es auf der Hin­fahrt geübt. Zeit genug hat­te ich ja. Ach, Pater Greh­sches, sagt die Wir­tin. Der kommt aus Indi­en. Voll­stän­di­ger Name: Chum­mar Gra­cious Nar­alak­kat­tu­kun­nel. So schwer ist das doch nicht. DIE GESCHICHTE!!! Mein Chef hat­te recht! Ich wer­de Volon­tär! Ich lie­be die­sen Mann. Jetzt nur nicht die Ner­ven ver­lie­ren. Was für eine Sto­ry. Der indi­sche Pfar­rer vom Donau­moos. Ich neh­me das Fahr­rad. Die Wir­tin hat es mir besorgt, es gehört einem ihrer Söh­ne. Das Pfarr­haus liegt an der Stra­ße nach Klings­moos, immer gera­de­aus. Und dann rechts.

Gleich gegen­über dem Wirts­haus wird neu gebaut. Über­haupt wird hier viel gebaut. Irgend­wie komisch. Wer will denn hier­her? Und war­um? Ich habe kei­ne Zeit, so geschwind rad­le ich an den Grä­ben vor­über, in denen rost­brau­nes Was­ser steht, ich rase und rad­le, ein radeln­der, rasen­der Repor­ter. Den Pfar­rer sehe ich schon von wei­tem. Er steht auf der Trep­pe zum Pfarr­haus, mit einem älte­ren Herrn ins Gespräch ver­tieft. Ich hül­le mich auf einer Bank am Fried­hofs­tor in den Schein der Abend­son­ne. End­lich bin ich an der Rei­he und: Die deut­sche Spra­che kennt kein Wort für mei­nen Schmerz. Der Pries­ter heißt nicht Nar­alak­kat­tu­kun­nel, son­dern bloß Poo­vat­til. Zwar kommt auch er aus Indi­en. Aber er weiß es nicht. Par­don: Er weiß natür­lich, dass er aus Indi­en kommt, aber er wuss­te nicht, dass er hier einen indi­schen Pfar­rer ver­tritt, besag­ten Nar­alak­kat­tu­kun­nel. Was soll’s, inzwi­schen weiß er’s. Was nützt mir das? Die bei­den haben mei­ne Geschich­te ruiniert.

Pater Poo­vat­til spricht nicht mal Deutsch. Er schreibt die Pre­digt auf Eng­lisch, über­setzt sie dann mit Wör­ter­buch und Inter­net. Ich bin längst bei mei­nem alten Lei­den: Wie kom­me ich an mei­ne Geschich­te? Die Wir­tin muss mich ret­ten. Ver­ab­schie­dung vom Pfar­rer. „Vergelt’s Gott!“ Zurück zum Gast­haus. Vor­bei an einem Holz­pfahl, laut Hin­weis­schild der Donau­moos­pe­gel. Er über­ragt mich fast um eine Prak­ti­kan­ten­län­ge. Und sieht alt aus. Steht auch drauf: „1836“. Das Holz ist so ver­wit­tert wie ein Grab­mal auf einem Hospitantenfriedhof.

Die Mono­to­nie des Schmer­zes hat mich radeln und radeln las­sen, ich bin längst am Wirts­haus vor­über. Kehrt­ge­macht und ab in den Bier­gar­ten. Ich habe Hun­ger. Der Stamm­tisch ist schon zusam­men­ge­kom­men. Mir fehlt der Mumm, in die ver­schwo­re­ne Gemein­schaft ein­zu­bre­chen, so wie es die Wir­tin vor­ge­schla­gen hat­te. Ges­ti­ku­lie­rend und immer wie­der Bier ordernd nimmt die Run­de aus sechs, sie­ben Leu­ten die Tages­po­li­tik in die Man­gel. Ich sit­ze eini­ge Tische ent­fernt, ganz allein. Ein Poli­to­lo­ge, durch­bohrt von Bli­cken: „Was will der hier?“, so fra­gen sie. Ich wid­me mich mei­nem Brot­zeit­tel­ler – und stu­die­re ange­regt die Gegend.

Irgend­was stimmt hier nicht. Und das bin nicht ich. Das Wirts­haus ist gut in Schuss, frisch saniert. Und trotz­dem: Ent­we­der wächst der Gast­hof aus dem Erd­reich, wie auf einem klei­nen Vul­kan. Oder der Boden drum her­um sackt ab. Ist doch ver­rückt. Unter­halb der Trep­pe, am Sockel ist es genau­so. Das Mau­er­werk liegt offen. Vom Berg­bau kennt man das. Wenn Stütz­bal­ken der alten Stol­len nach­ge­ben und der Boden absackt. Aber hier? Das Haus steht auf Pfei­lern aus Beton, sagt die Wir­tin. Wie­so das denn?, fra­ge ich. Ich seh kei­ne. „Unter­ir­disch, tief in den Boden hin­ein“, gibt sie zurück. Das hängt mit dem Moor zusam­men. Der tro­cken­ge­leg­ten Torf­schicht. Na gut, den­ke ich. „Hat der Donau­moos­pe­gel was damit zu tun, der Pfahl am Stra­ßen­rand?“ – „Ja klar“, ent­geg­net sie. „So hoch wie der Pflock jetzt aus der Erde ragt, so tief ist der Boden dort und fast über­all abge­sackt. Um die drei Meter. Als er ein­ge­schla­gen wur­de, schloss er eben­erdig ab“, sagt sie und ver­schwin­det. Der Stamm­tisch ruft nach Bier.

Ist das nun eine Geschich­te? Ver­sin­ken­de Dör­fer: ja. Über­schwemm­te Dör­fer: ja. Ein­stür­zen­de Neu­bau­ten: klar. Aber ver­sin­ken­de Land­schaf­ten, in denen das Dorf ste­hen bleibt? Nein.

Mei­ne letz­te Hoff­nung: der Bür­ger­meis­ter. Ein Anruf im Rat­haus am nächs­ten Mor­gen. Der Bür­ger­meis­ter ist in Urlaub. Na pri­ma! Hört der Wahn­sinn nie­mals auf? Sein Stell­ver­tre­ter ist da – und hat Zeit für mich, nach­mit­tags. Bis dahin fah­re ich durchs Moos, las­se Äcker und Was­ser­grä­ben auf mich wir­ken. Brü­cken gibt es aller­hand, dar­un­ter sind Kanä­le. Der Torf wirkt wie ein Schwamm. Und der ist vol­ler Was­ser, auch wenn es lan­ge nicht gereg­net hat. Damit man trotz­dem dar­auf bau­en, fah­ren, Land­wirt­schaft betrei­ben kann, gibt es die Grä­ben. Die Grä­ben mün­den in die Ach, ein klei­nes Flüss­chen, das mir aus dem Her­zen spricht. Auch die Ach ist voll mit rost­brau­nem Nass. Der Farb­stoff aus dem Torf.

Der Bür­ger­meis­ter­stell­ver­tre­ter dage­gen trägt ein flott karier­tes Frei­zeit­hemd, als ich ihn im Hoch­par­terre des Dorf­rat­hau­ses heim­su­che. Sport­lich, locker, um die vier­zig. Im Gegen­satz zu mir. Und fragt, wie alle, nach dem War­um, was ich hier will, ich pran­ge­re den Chef an, der Bür­ger­meis­ter­stell­ver­tre­ter grinst, mein Gegen­schlag: „Wie ist das“, fra­ge ich läs­sig, „mit dem Donau­moos?“ „Alles senkt sich, sieht man doch“, sagt er mir unge­rührt. „Nur moder­ne Häu­ser nicht, die hal­ten. Die alten aber, die gehen kaputt. Des­halb gibt’s auch kaum noch wel­che.“ Und die es gibt, die hät­ten sel­ten Fun­da­men­te. Wenn doch, dann stün­den sie auf Eichen­pfäh­len. „Sackt der Boden weg, lie­gen sie irgend­wann frei. Der Fäul­nis preis­ge­ge­ben.“ In den Bau­ten dar­über, sagt er: „Brö­ckeln­der Putz, Ris­se in der Fas­sa­de, schie­fe Wän­de, die Dächer glei­chen Donau­wel­len.“ So wie der alte Tanz­saal neben dem Gast­haus Kraus, den­ke ich.

Und dann sei da noch das Hoch­was­ser­pro­blem. „Vor allem die Bau­ern lei­den, wenn die Pegel stei­gen“, sagt Ger­hard Ottil­lin­ger, der Bür­ger­meis­ter­stell­ver­tre­ter. Die meis­ten Häu­ser stün­den sicher, der Beton­pfäh­le wegen. „Die Fel­der aber zei­gen oft noch Wun­den des Torf­ab­baus. Obwohl das vier­zig Jah­re her ist.“ Ter­ras­sen­för­mig geht es auf den Äckern meter­tief hin­ab, dem Grund­was­ser ent­ge­gen. Hat­te ich bei mei­ner Moos­rund­fahrt mit dem Fahr­rad gese­hen. Auch hier, in Ober­bay­ern, fließt das Was­ser nach unten. Des­halb gibt es üble Über­schwem­mun­gen. Ottil­lin­ger sagt: „Beson­ders zuge­schla­gen hat die Flut von 1994. Gan­ze Ern­ten wur­den weg­ge­spült, der Jah­res­er­trag vie­ler Landwirte.“

170 Qua­drat­ki­lo­me­ter misst das Moos, es ist Süd­deutsch­lands größ­tes Nie­der­moor. Aber alles tro­cken­ge­legt. Das begann um 1790 – aber es hört nie auf. „Stop­pen wir die Tro­cken­le­gung, ver­sinkt hier alles wie­der in Sumpf und Matsch.“ So aber sackt der Torf, das tro­cken­ge­leg­te Moor, jedes Jahr wei­ter. Im Som­mer 2003 gleich um fünf Zen­ti­me­ter. Das hat allein Königs­moos auf einen Schlag 700 000 Euro gekos­tet. „War nur mit Lan­des­hil­fe zu stem­men“, sagt er. „War­um wird dann hier über­all gebaut?“, fra­ge ich. Ottil­lin­ger weiß es: „Jun­ge Leu­te. Weil’s bil­li­ger Bau­grund ist. Ingol­stadt ist teu­er. Heut wird auch anders gebaut als frü­her. Kei­ne Ris­se, kaum Schä­den am Haus.“ Nur der Gar­ten, der müs­se alle paar Jah­re „auf­ge­füllt“ wer­den. Sonst sieht er aus wie eine Mond­land­schaft, lau­ter Kra­ter und Hügel. Je nach­dem, wie der Boden unter dem Torf beschaf­fen ist. Die alte Wohn- und Arbeits­kul­tur der Kolo­nis­ten, sie haben das Moor für den König tro­cken­ge­legt, kann heu­te nur noch im Frei­licht­mu­se­um ange­schaut werden.

Um mei­nen Mooshun­ger zu stil­len, schickt mich Ottil­lin­ger zum Herrn der Grä­ben, Hans-Peter Kober. Er sitzt im Kel­ler. „Und bud­delt?“, fra­ge ich. „Nein, um den Hoch­was­ser­schutz küm­mert er sich“, sagt Ottil­lin­ger. Vom Schreib­tisch aus. 430 Kilo­me­ter Kanal- und Bach­sys­tem beauf­sich­tigt der Mann. Wenn die Gewäs­ser ver­san­den, schickt er sei­ne Män­ner los. Denn wenn die Grä­ben zu sind, herrscht „Land unter“.

Regen­rück­hal­te­be­cken wur­den gebaut, um das Hoch­was­ser her­aus­zu­hal­ten, das bei jedem Wol­ken­bruch droht. Doch die Arbeit kommt nicht vor­an. Von fünf­zig geplan­ten Becken sind gera­de drei fer­tig gewor­den. In elf Jah­ren. Den Grund für die Becken müs­sen die Bau­ern her­ge­ben. Die wol­len nicht – klar. Das Land weg­ge­ben, um es zu schüt­zen? Und auch bei den Ent­wäs­se­rungs­ka­nä­len droht der Kol­laps. Vie­len fehlt es mitt­ler­wei­le an natür­li­chem Gefäl­le, weil sie in den höhe­ren Lagen stär­ker absa­cken als wei­ter unten. „Wie bis­her nur Gras und Müll ent­fer­nen, die Grä­ben von Sand befrei­en: Damit ist’s nicht mehr getan“, sagt Kober. Es gibt nur noch eine Lösung, näm­lich zwei: „Ent­we­der auf­wen­dig gra­ben oder das Was­ser abpum­pen. Schon jetzt wer­den die Abwäs­ser aus Häu­sern und Bau­ern­hö­fen abge­saugt.“ Man­che Flä­chen muss man wohl auch dem Moor zurück­ge­ben, schiebt er nach. „Rena­tu­rie­rung“, nennt er das. Sonst kann die Moor­sa­ckung nicht gestoppt wer­den, sonst trägt der Wind den Torf, sobald er tro­cken ist, ein­fach davon. „Wie wäre es denn, wenn wir das Moor wie­der flu­ten?“, fra­ge ich keck. Das wol­len nur ein paar Ökos, erwi­dert er. „Und was machen wir mit den 14.300 Leu­ten, die hier wohnen?“

Am nächs­ten Mor­gen packe ich. Abschied bei mei­ner Wirts­haus­mut­ter. Ob ich schon weg­dür­fe? Was gefun­den hät­te?, fragt sie. Das sich auf­zu­schrei­ben loh­ne? Nein, sage ich. Hier gibt’s kei­ne Geschichten.

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