Eigentlich auf dem Weg nach Hamburg, zwingt mich der – wie es in den Nachrichten hieß: „orkanartige“ – Sturm zu einem Zwischenhalt im einstigen Zentrum der Ottonen an der Elbe. Nach unruhiger Nacht mache ich mich auf den Weg ins Stadtinnere, das von zwei Bauten besonders dominiert wird: natürlich vom ersten gotischen Dom auf deutschem Boden, der Grablege des ersten deutschen Kaisers, ebenso aber von dem ehemaligen Kollegiatstift „Unser Lieben Frauen“. Bald eintausend Jahre ist es her, dass es der damalige Magdeburger Erzbischof Gero nördlich des Domes gegründet hat, wenn auch der heutige Bau erst von einem seiner Nachfolger begonnen wurde. Der Muttergottes geweiht, wurde es reich ausgestattet mit Besitzungen. Für den Baustil gilt, der Epoche der Romanik entsprechend, das Gegenteil: Das Stift ist, trotz der frühgotischen Deckeneinwölbung im Langhaus, äußerst schlicht gehalten. Aus eher kleinen Bruchsteinen hat man es errichtet, denen die beiden massigen Westtürme voranstehen. Nicht von ungefähr sprechen Fachleute hier von einem „Riegel“, so wuchtig kommt der Verbindungsbau zwischen ihnen daher. „Unser Lieben Frauen“ gilt noch immer als „Lehrbeispiel für den Sakralbau um 1100“ (Laabs/Hornemann). Die Bedeutung der schon in der DDR profanierten Kirche (seit 1977 „Konzerthalle Georg Philipp Telemann“) wie der gesamten Anlage reichte und reicht dabei weit über Fragen von Architektur oder Baustilkunde hinaus. Denn verbunden ist sie auch mit einem bedeutenden Mann der mittelalterlichen Kirchengeschichte: mit Norbert von Xanten, dem Gründer des Prämonstratenserordens. Er war es, der das Stift im Jahr 1129 ebendiesem, seinem Orden in der Eigenschaft als Erzbischof von Magdeburg übertrug. Norbert ist seinerzeit, nach dem Hl. Bruno von Köln („Karthäuser“), erst der zweite deutsche Gründer eines geistlichen Ordens gewesen. Statt, wie üblich, das Stift dem Mutterhaus im französischen Prémontré (daher der Ordensname) zu unterstellen, nahm er es unter seine eigenen Fittiche. Schnell gewann es Ansehen, erhielten Norberts dortige Schüler Bischofsstühle in Havelberg, Brandenburg und Ratzeburg. Zeitweise bis zu sechzehn Konvente umfasste die sächsische Prämonstratenserordensprovinz. Als Norbert 1134 starb, erhielt er seine Ruhestätte vor dem damaligen Kreuzaltar in der Stiftskirche, wurde später aber unter den Hochchor umgebettet. Noch heute, obwohl seit Jahrhunderten verwaist, befindet sich das Grabmal dort. Obwohl Norbert 1582 im Zuge der Gegenreformation heiliggesprochen worden war, fand dennoch neun Jahre später der erste evangelische Gottesdienst in der über Jahrzehnte umkämpften Kirche statt. 1601 verließ der letzte katholische Konventuale das Stift. Ein Vierteljahrhundert später folgte ihm der Leichnam des Hl. Norbert mit kaiserlicher Unterstützung. Er ruht seither im Prager Kloster Strahov. Heute jedoch gilt das frühere Stift, das 1945 beträchtliche Schäden erlitt, als ältestes Gebäude Magdeburgs und „wichtigster Ausstellungsort für Gegenwartskunst im Bundesland Sachsen-Anhalt“ (Laabs/Hornemann). Dafür wiederum waren die Voraussetzungen vor 1990 gelegt worden, als Magdeburg zum Standort der „Nationalen Sammlung Plastik der DDR“ aufstieg – mit einem Schwerpunkt auf Werken des 20. Jahrhunderts. Der Kellerraum unter der mittleren Gewölbetonne birgt jedoch eine kleine Ausstellung religiöser Skulpturen, deren Bedeutung mit einem so bemerkenswerten wie – mit Blick auf die religiöse Situation Ostdeutschlands – zutreffenden Satz der Kuratoren klargestellt wird: „Die hier ausgestellten Skulpturen […] [haben] heute alle ihre ursprüngliche Funktion im Rahmen der Frömmigkeitsgeschichte verloren.“ Interessant zu wissen wäre, ob es sich bei dieser Formulierung um eine Beschreibung oder um eine Art Deklaration der Ausstellungsmacher handelt; letztere jedenfalls stünde nicht außerhalb der jüngeren Tradition des Landstrichs.