Der Chef des deutschsprachigen Radio Vatikan berichtet in Dresden über seine Eindrücke des bisherigen Franziskus-Pontifikats.
DRESDEN. Ein echter Vaticanisti ist im Diaspora-Bistum Dresden-Meißen selten zu Gast – jedenfalls, um öffentlich über Papst, Kurie und Kirche in Rom aus dem Nähkästchen zu plaudern. Diese Woche klappte es auf Einladung der Katholischen Akademie im Dresdener Sankt-Benno-Gymnasium, in das am Montag rund 240 Gäste gekommen waren. Das Thema „Der Pontifex der Überraschungen. Vier Jahre Papst Franziskus“ zog offensichtlich – darunter, wenn auch bei dem Veranstaltungsort nicht ganz überraschend, ungewöhnlich viele junge Leute.
Zu Gast war Jesuitenpater Bernd Hagenkord, der Chef der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan, der einem größeren Publikum 2013 im ZDF als Konklave-Kommentator bekannt geworden ist. Nun, vier Jahre später, nannte der studierte Journalist den Papst auf die Leitfrage des Abends, was der für ein Mensch sei, einen „genialen Kommunikator“, der in Lateinamerika oder Europa genauso gut ankomme wie im kulturell mehr auf Distanz bedachten Südkorea, das er 2014 bereiste.
Soweit, so wenig überraschend, schließlich ist von einem Abebben der Verehrung für den Argentinier auch hierzulande bislang nichts zu spüren? Ja, aber! Denn Hagenkord vermittelte einen Eindruck von ihm, der nicht nur für Journalisten in Rom in dem Ausruf „Vorsicht, der Papst verlässt den Vatikan!“ zwischen Frohlocken und Bangen beständig schwankt: etwa, wenn Franziskus „die Kurie aufräumen“ will mit Blick auf Vatikanbanksanierung oder Neustrukturierung der Bürokratie. Andere bewunderten den Papst der Gesten, der es statt der roten bei den ausgetretenen schwarzen Schuhen und dem blechernen Brustkreuz beließ; der in einem ehemaligen Gästehaus wohnt, statt in der Hagenkord zufolge allerdings eher bescheidenen Palastwohnung, um sich vor menschlichen Filtern zu schützen, die die Wirklichkeit siebten. All das ist bekannt, auch die Fettnäpfchen, in die der 80-jährige Pontifex tritt – etwa, wenn er Katholiken davor warnt, sich wie Karnickel zu vermehren.
Was bedeutet ihm aber die Kirche in Deutschland? Schon durch seine eigene Herkunft viel weniger als Vorgänger Benedikt; das wurde aus Hagenkords Worten deutlich. Ordensbruder Mario Bergoglio arbeite daran, den Einfluss der Europäer zurückzudrängen, indem Bischöfe aus Venedig, Turin, Palermo (oder Berlin, das Hagenkord aber nicht erwähnte) auf einen Kardinalshut vorerst zu verzichten hätten – damit andere Weltgegenden eine Stimme erhielten. Nicht „Paris oder Wittenberg“ interessierten den Jesuitenpapst an Europa, sondern Albanien und Lampedusa, die Ränder des Elends unserer Tage. Nicht Zölibat, Umgang mit Homosexuellen oder Frauenpriestertum seien ihm die wichtigsten Baustellen der Weltkirche, sondern Mission: das Reden eines jeden Katholiken, nicht nur der Priester, von Jesus Christus, die Bekehrung ganzer Gesellschaften, womit Hagenkord doch wieder bei Europa anlangte. „Wir müssen neu lernen zu verkünden, ohne tragende Milieus“, so der aus dem Münsterland stammende, gebürtige Ahlener über das Denken des Papstes.
Die Aufmerksamkeit gilt den Ostkirchen mehr als den Lutheranern
Auch die Ökumene vertiefe der Argentinier anders, als sich das viele Deutsche wünschten. Nicht die Lutheraner stünden für ihn im Vordergrund, obwohl Franziskus 2016 wegen des bevorstehenden Reformationsgedenkens ins schwedische Lund gereist sei, dieses Jahr aber nicht nach Deutschland kommt. Stattdessen schaue der Petrus-Nachfolger wie Benedikt vor ihm besonders auf die Ostkirchen, sprach etwa das Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, Bartholomäus, als Patriarchen von Konstantinopel nach seiner Wahl mit „Bruder Andreas“ an – in Anlehnung an das Bruderpaar Petrus und Andreas, das Jesus einst nachfolgte.
Angstfrei und offensiv – so wolle Franziskus die Kirche, dem „katholisch“ nicht als Adjektiv gelte, sondern als Tätigkeitswort. In diesem Selbstverständnis übergehe er Erwartungshaltungen wie kaum ein Oberhirte der letzten Jahrzehnte. Anders als vor ihm, errege das aber weniger Anstoß: Denn welchem Papst habe es die Öffentlichkeit je nachgesehen, fragte Hagenkord, sich selbstbewusst auf den im Ersten Vatikanischen Konzil beschlossenen Jurisdiktionsprimat zu beziehen, also in Lehrfragen unfehlbar zu sein? Genau das aber habe Franziskus zur ersten Familiensynode 2014 in seiner nicht angekündigten Abschlussrede getan, als er den Bischöfen auftrug, sich um der Sache willen offen zu streiten. Mit Referenz, ja, auf das Erste Vatikanum: Denn „ich sorge dafür, dass am Ende alles eins bleibt“, gab der Radiomann aus Rom die damaligen Worte des Papstes wieder, denen nirgends ein Aufschrei folgte. Man stelle sich vor, Benedikt hätte das Gleiche gesagt.
Auch das Publikum kam zu Wort. Eine junge Frau fragte: „Glauben Sie, dass dieser Papst die Institution ‚Kirche‘ in Deutschland retten kann, deren Attraktivität so gelitten hat?“ Die Antwort des Paters: „Nein.“ Um nach einer Pause fortzusetzen: „Das können nur die Gemeinden vor Ort. Denn es geht darum, Zeugnis ablegend, Christ zu sein, nicht Institution zu schützen.“ Laurenz Tammer – viele Jahre Zwickauer Dekan, nun Pfarrer in Dresden – lenkte die Aufmerksamkeit auf die Sicht mancher Kritiker des Papstes, dieser „würde zu wenig klare Kante gegenüber politischem Islam, Islamismus, religiös motivierter Gewalt zeigen“, mit der Begründung, letztere gebe es in jeder Religion. Tammer vermutete als Grund für Franziskus‘ Zögern die Angst davor, ähnlich wie nach Benedikts Regensburger Rede könne Gewalt gegen die Schwächsten, beispielsweise Christen in Pakistan, dem Irak oder Syrien, die Folge sein. Hagenkord, der die Rede als „einen der besten Texte zum Thema Religion und Gewalt“ bezeichnete, deutete die Zurückhaltung von Franziskus als Zeichen dafür, dass dieser ein „unverbesserlicher Optimist [sei], was den Menschen angeht“. Der Papst wolle mit jedem reden, auch auf die Gefahr hin, dass man ihm vorwirft, Diktatoren vorübergehend zu stabilisieren, wie dies bei Venezuelas Staatspräsident Nicolás Maduro der Fall gewesen sei. Der Pater nannte dies „ein bisschen naiv, aber das steht einem Papst in dem Fall zu“.
Ein Charismatiker lebt den Glauben vor
All das mache Franziskus zu einem Mann, der zwar noch kein „großer Lösungspräsentierer“ sei, wohl aber „ein Unruheschaffer“. Dies passte zu dem, worauf Hagenkord an früherer Stelle einging – nämlich, dass die Kirche des 21. Jahrhunderts auf die Fragen der Zeit nicht die Antworten früherer Generationen geben könne – in ihren Ausdrucks- und Umgangsformen. Franziskus gehe einen neuen Weg, er suche Nähe auch physisch und lebe charismatisch die Freude am Glauben vor. Das sei zudem in seinen Texten spürbar – anders als in Verlautbarungen der Deutschen Bischofskonferenz: „Wo gibt es da Dokumente“, fragte der Pater aus Rom, „wo man mal lachen kann?“ Beabsichtigt und von Herzen. „Das ist eher selten.“ Der Papst aber schreibe so unverstellt wie er spreche, nicht erhaben. Er wolle verstanden werden. Jetzt. Von jedem.