Das Erdmannsdorfer Anwesen durchwehen 800 Jahre Geschichte. Heute aber liegt es im Dornröschenschlaf. Dabei brachte eine Besitzerfamilie den Schöpfer des Wörlitzer Parks hervor, aus einer anderen stammt Heinrich Schütz, und eine dritte mischte ganz oben in der Politik mit.
ERDMANNSDORF. Einige Fantasie muss schon aufbringen, wer sich das heute baufällige Schloss im Augustusburger Ortsteil Erdmannsdorf als das ausmalen will, was es einst war: der idyllisch oberhalb der Zschopau gelegene, von altem Baumbestand umsäumte Sitz einer der berühmtesten Adelsfamilien Sachsens.
Einer, der das kann, ist Bernd Wegert. Nur wenige wissen so viel wie der Theologe über das seit Jahren im Dornröschenschlaf schlummernde zweiflügelige Kleinod. Dass dies nicht von ungefähr kommt, liegt auch daran, dass der rüstige 76-Jährige von 1981 bis 1999 im Ort Pfarrer war und noch immer mit seiner Frau nur wenige Meter vom Schloss entfernt im Pfarrhaus wohnt. Dieses, die neugotische Trinitatiskirche und das Schloss mit seinen Anfängen im 12. Jahrhundert bilden ein Dreieck, in dem jeder Eckpunkt aufeinander bezogen ist, da die Schlossherren – wie auch andernorts üblich – das Patronat über die Kirche ausübten. „Die Zahl drei erinnert auch an die wesentlichen überlieferten Bauepochen des Anwesens mit Resten einer mittelalterlichen Höhenburg, dem Um- und Anbau aus der Renaissance, der noch gut etwa an manchen Porphyr-Fenstereinfassungen zu erkennen ist, und dem weithin sichtbaren Turm auf dem tudorgotischen Seitenflügel von 1843“, so der Absolvent des Leipziger Theologischen Seminars, der in Oelsnitz im Erzgebirge geboren wurde. „Die Dreiheit“, so der gelernte Bergmann, „deutet auch hin auf die wichtigsten Adelshäuser, die das Anwesen bis zum Jahr 1932 bewohnten.“ Dies war für die Zeit von der Mitte des 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Familie von Erdmannsdorf. Etwa zehn Generationen lebten als Nachkommen jenes um 1150 erwähnten „Werner, der Nidberg erbaute“, hier. Bei ihm handelte es sich um einen Reichsministerialen, also einen Bediensteten des Kaisers, unter dessen Aufsicht die damals neubesiedelten Gebiete entlang des Böhmischen Steiges verwaltet wurden.
Die den Königen dienten
Auf das Geschlecht, dem mit Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf der Architekt des Wörlitzer Parks entstammt, folgte die später geadelte Nürnberger Kaufmannsfamilie Schütz. Als Käufer des von der Zschopau aus gut sichtbar auf einem Bergsporn gelegenen Schlosses trat Ulrich Schütz auf, der um 1500 Chemnitzer Bürgermeister war. Mit Heinrich Schütz (1585 bis 1672) zählt zudem der vor Johann Sebastian Bach bedeutendste deutsche Komponist sehr wahrscheinlich zur Familie, auch wenn der Stammbaum nicht lückenlos zu belegen ist, heißt es in der Chronik „800 Jahre Erdmannsdorf“ von 1996. Der kurfürstlich-sächsische Amtshauptmann des Erzgebirgischen Kreises, Julius Ernst von Schütz, wiederum legte 1770 die von der Forschung als Standardwerk gewürdigte „Historisch-Oeconomische Beschreibung von dem berühmten Schloß und Amte Augustusburg in Chur-Sachsen“ vor. Mit einer Unterbrechung lebten die Schütz‘ von 1490 bis 1793 in Erdmannsdorf.
1822 zog für drei Generationen die sächsisch-thüringische Familie von Könneritz ein, die zu den prominentesten Häusern gehörte, die dem sächsischen Königshaus gedient haben. Hans Heinrich, der Erdmannsdorf erwarb, war Sächsischer Gesandter in Paris, während es etwa Léonce Robert von Könneritz ab 1876 zum sächsischen Finanzminister und Chemnitzer Ehrenbürger brachte, während dessen Amtszeit der Freiberger Silberbergbau verstaatlicht wurde.
Das Intermezzo der SA
„Die Bedeutung der Könneritzer am Dresdener Hof führte dazu, dass wiederholt der König in Erdmannsdorf war“, sagt Wegert. Da der Monarch trotz nur seltener Gastspiele einen eigenen Gebäudetrakt erhalten sollte, wurden Süd‑, West- und Nordflügel 1829 abgerissen. Daraufhin entstand der neue Südflügel mit hohen Räumen – die unbeheizte, „kalte Pracht“ -, oben spitz zulaufendem Portal und dem 1997 instand gesetzten, zinkverkleideten Turmaufsatz. „In die Könneritz-Familie hatte übrigens 1863 mit einer von Beust eine wohl entfernte Vorfahrin des früheren Hamburger Ersten Bürgermeisters Ole von Beust eingeheiratet“, so Wegert. Die 1930er-Jahre brachten dabei nicht nur weltpolitische Veränderungen. Auch in Erdmannsdorf endete eine Ära. 1932 mussten unter dem letzten Bewohner der Familie wegen Erbauseinandersetzungen das Schloss, später der landwirtschaftliche Betrieb versteigert werden. 1934 zog kurzzeitig eine Sportschule der SA ein. Drei Jahre später kamen Wohnungen ins Haus, die teils noch immer vermietet sind.
Trotz der turbulenten Veränderungen lässt sich am Gebäude, das 1951 an die Gemeinde überging, der vielfältige Stilmix nach wie vor erkennen. „In der ersten Etage ist ein markantes Renaissance-Doppelfenster erhalten“, erläutert der Pfarrer im Schlosshof. Der nicht zugängliche Keller des auch Steinhaus genannten Traktes, dem einst ein hölzerner Vorgängerbau Platz machte, birgt gotische Gewölbe. Im Treppenhaus weist Wegert auf die gewundene Holzstiege hin, deren aufwendig gestaltetes Geländer gut erhalten ist. Im Obergeschoss sticht das aufgearbeitete historische Parkett vor dem Eingang zum Festsaal heraus.
Dem, der genau hinschaut, hat das Schloss nach wie vor viel zu erzählen. Was fehlt, ist eine tragfähige Nutzung. Augustusburgs Bürgermeister Dirk Neubauer, der nach der Eingemeindung für Erdmannsdorf zuständig ist, würde das Ensemble für einen symbolischen Euro an die Frau oder den Mann bringen und hat für Ideen gewiss offene Ohren.
Der frankophile Erdmannsdorfer
Einer der prominentesten Bewohner des Erdmannsdorfer Schlosses war Léonce Robert von Könneritz. Dabei wurde er nicht in Sachsen geboren, sondern 1835 in Paris – nichts Ungewöhnliches in einer Familie, die, wie Könneritz‘ Vater, der Gesandter in Madrid und Paris war, einige Diplomaten hervorbrachte. Der Name Léonce deutet auch darauf hin. Der Lebensweg des späteren sächsischen Finanzministers blieb auch in konfliktreichen Zeiten mit Frankreich verbunden. So war er während des Deutsch-Französischen Krieges 1871 Präfekt in Orléans, danach in Metz.
Zur Schule ging Könneritz zuvor in das reformpädagogische Blochmannsche Gymnasium in Dresden und das Königliche zu Freiberg. Bis 1856 studierte er in Leipzig Jura und übernahm dann vom Vater das Erdmannsdorfer Gut. Nach Angaben der von der Bayerischen Staatsbibliothek betreuten Seite www.reichstagsprotokolle.de wurde er 1857 ehrenamtlicher Friedensrichter, fünf Jahre später Königlicher Kammerherr, seit 1864 Königlich-Sächsischer Amtshauptmann zu Chemnitz. 1863 heiratete er Maria von Beust, die einzige Tochter des damaligen österreichischen Ministerpräsidenten, mit der er vier Kinder hatte. Den Höhepunkt seiner Laufbahn markiert die Ernennung zum Finanzminister 1876 unter König Albert, der selbst in Frankreich im Krieg gewesen war. Könneritz starb 54-jährig 1890 in Dresden.
Der Gutsbesitzer als Patronatsherr der Kirche
Zwar verdecken Baugerüste derzeit den Blick auf den 54 Meter hohen Kirchturm der evangelischen Trinitatiskirche in Erdmannsdorf, für dessen Sanierung die Gemeinde Spenden sammelt. Trotzdem wird das neugotische Gotteshaus am Sonntag wie Schloss und ehemaliges Gesindehaus geöffnet sein. Verbunden sind Schloss und Kirche nicht zuletzt durch Hans Heinrich von Könneritz (1790 bis 1863), den Vater von Léonce (siehe unten). Der Gutsbesitzer stellte einst das Baugrundstück kostenfrei bereit. Bei der Familie lag zudem das Patronat der Kirche, was symbolisch im Oktober 1893 bei der Weihe mit der Schlüsselübergabe durch den Architekten zum Ausdruck kam. Auch wurden auf dem Friedhof Mitglieder der Könneritz-Familie beigesetzt.
Vor der Reformation war Erdmannsdorf Wallfahrtsort. Beim ältesten Kirchenbau des Ortes handelte es sich um eine der Gottesmutter geweihte Kapelle, die 1513 jenen geschnitzten Flügelaltar erhielt, der heute im Schloßbergmuseum Chemnitz ausgestellt ist. Seit 1545 wirkten evangelische Prediger in der Kapelle, die 1612 erweitert wurde. 1736 abermals um etwa sechs Meter verlängert und später mit einer neuen Orgel des Augustusburger Baumeisters Renckwitz ausgestattet, erhielt die Kirche auch eine neue Kanzel. 1830 wurde die Orgelempore vergrößert. Doch die Kirche blieb, wie es in der Chronik heißt, „für damalige Verhältnisse zu klein“. So wurde der heutige Bau geplant.
Dass der neugotische Stil seinerzeit deutschlandweit hoch im Kurs stand, hängt auch mit Dichter Goethe zusammen, dessen euphorische Würdigung des gotischen Straßburger Münsters und eines seiner wichtigsten Baumeister, Erwin von Steinbach, im Text „Von deutscher Baukunst“ Einfluss nahm auf die Stilvorlieben seiner Zeit – mit langer Wirkung. Der in Flensburg geborene Architekt Schramm, der die Erdmannsdorfer Kirche mit sehenswerten Bildfenstern entworfen hat, stand wie viele Zeitgenossen unter diesem Eindruck und trug ihn in Anlehnung an die Backsteingotik nach Sachsen.