CHEMNITZ. Konservative Wissenschaftler, Publizisten, Intellektuelle haben nach dem Zweiten Weltkrieg in der frühen Bundesrepublik den Neuanfang gewagt, auf den sie in der DDR keinen Einfluss hatten. Ein Gespräch (Teil I: hier) über Denktraditionen, die Abkehr davon und darüber, was das mit der Neuen Rechten zu tun hat – mit den Chemnitzer Politologen Frank Schale und Sebastian Liebold, die zum Thema einen Sammelband publiziert haben.
Warum ignoriert – oder verachtet – die Neue Rechte die Erfahrungen vieler Konservativer, die nach 1945 ihren Frieden machten mit Parteiendemokratie, Gewaltenteilung und Minderheitenrechten?
Frank Schale: Weil die Neue Rechte nicht konservativ ist. Sie will verteidigen, was es nie gab: die Einheit des Abendlandes. In der frühen Bundesrepublik haben sich Konservative schnell von solchen Romantizismen verabschiedet. Die Mehrheit der Neuen Rechten folgt nicht traditionellen konservativen Denkern wie Edmund Burke. Sie ist Wiedergängerin der Konservativen Revolution und imitiert linken Aktionismus, wiederholt permanent den Vorwurf an die politische Linke, zu moralisieren und nicht gerecht behandelt zu werden. Ist das konservativ?
Sebastian Liebold: Wir haben heute ja nicht nur in Deutschland Tendenzen zu emotionalen, antirechtsstaatlichen Ideen. Konservativen der frühen Bundesrepublik saßen Krieg und NS-Verbrechen so in den Knochen, dass sie davon kuriert waren. Viele wollten den Frieden radikal, nicht nur als Abwesenheit von Krieg, auch nach innen, indem sie für Rechtsstaat und Entpolitisierung eintraten. Die Verachtung gegenüber Parteien kam, von anderer Seite, erst mit den 68ern wieder.
Sind namhafte Vertreter der Neuen Rechten, etwa Götz Kubitschek oder Karlheinz Weißmann, konservativ oder rechts?
Schale: „Konservatismus“ ist kein Substanz‑, sondern ein Relationsbegriff. Wenn also jemand für bestimmte Werte oder Institutionen eintritt, ist damit über diese selbst noch nichts gesagt. Das macht sich die intellektuelle Rechte zunutze und bemäntelt radikale Forderungen als konservativ. Der Nachkriegskonservatismus übte Säkularisierungskritik, gab dem Rechtsstaatsgedanken Vorrang vor Demokratie und betrieb antikommunistische Totalitarismuskritik. Abgesehen von der Behauptung, die Bundesregierung habe in der Asylpolitik gegen Gesetze verstoßen, findet sich wenig vom Konservatismus der alten Bundesrepublik bei der Neuen Rechten. Es bleiben nur die apokalyptisch überzeichnete Absage an eine Zuwanderungsgesellschaft und ein modischer Chic, der in sozialen Medien präsentiert wird.
Ein Block scheint das neurechte Lager aber nicht zu sein. Benedikt Kaiser hat in Kubitscheks Verlag das Buch „Querfront“ herausgebracht. Darin tritt er ein für „Antiimperialismus von rechts“, der Alternativen zum Finanzkapitalismus entwickeln müsse. Ist das ein kalkulierter Ausreißer?
Liebold: Kaiser ist kein Ausreißer mit Blick auf Schnittmengen von radikalen Rechten und Linken schon in der Weimarer Republik – Stichwort Nationalbolschewismus. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass konservative Regierungen weltweit Reagans und Thatchers Finanzmarktreformen über Jahrzehnte mitgetragen haben – mit allen noch heute spürbaren Folgen. Das wurde früh von rechts kritisiert. In der Bundesrepublik hatten ordoliberale Vordenker Ludwig Erhards nicht von ungefähr einen Mittelweg versucht, indem sie Freiheit und soziale Absicherung in einem starken Staat verbinden wollten. Mancher wünschte sich heute aktualisierte Konzepte und Köpfe, die sie öffentlichkeitswirksam vertreten.
Während manche in der CDU die Vokabel „konservativ“ meiden und lieber „die Mitte“ vertreten wollen, als sei sie ein Punkt, hat Karlheinz Weißmann das „konservative Minimum“ 2007 in einer gleichnamigen Schrift als „Kampf-Ansage“ gegen „unsere Existenz“ bezeichnet. Letztere sei „bindungslos, heimatlos, haltlos, glaubenslos“ geworden.
Schale: Viele frühe Unionspolitiker verzichten weitgehend auf die Vokabel „konservativ“, siehe Adenauer. Trotzdem sah man sich als Alternative zur SPD mit dem Gestaltungsauftrag „Modernisierung im Wiederaufbau“. An diesem Verständnis hat sich nichts geändert, auch wenn die Erosion sozialer Milieus zu Veränderungen führte. Das Problem liegt darin, dass diesem sozialen Wandel kaum neue politische Konzeptionen gefolgt sind. Die SPD spürt die Konsequenzen übrigens viel stärker. Von konservativer Seite hat der Appell an Bindung, Heimat, Glaube vielleicht etwas Kompensatorisches. Die Neue Rechte wird in den Sozialwissenschaften ohnehin nicht mit dem Vokabular der Konservativen beschrieben. Wir fragen nach den Ursachen pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen.
Ist die Rechte jetzt stark, da sie anprangert, was viele fürchten? Oder ist es ein Fehler der Union, die vom Vorsatz abweicht, Integration weit nach rechts sei ein Wert an sich?
Liebold: Ob und wie stark die Neue Rechte tatsächlich ist, müsste genauer untersucht werden. Mit einem Verweis auf AfD-Wahlergebnisse ist es nicht getan. Dass Bindung und Glaube nachlassen, ist soziologisch geprüft. In der Demokratie steht es aber jedem frei, für Werte – welche immer – rechtskonform einzutreten. Im Ausland wird mir übrigens nicht selten der Eindruck vermittelt, dass die Verbindung von Demokratie und Heimatgefühl in Deutschland gar nicht schlecht funktioniert.
Wo stünden die Konservativen in Ihrem Buch angesichts ihrer damaligen Positionen heute?
Schale: Da kann ich nur spekulieren: Ob aber ein Liberalkonservativer wie Carl Joachim Friedrich, der einer starken Verwaltung gegenüber der Einhaltung demokratischer Prozesse den Vorzug gab, jede Entscheidung, die staatliche Bürokratien vor Herausforderungen stellt, begrüßen würde, wage ich zu bezweifeln. Er hätte jeden Angriff auf staatliche Institutionen zurückgewiesen. Auch ein „Wir sind das Volk“ wäre ihm nicht über die Lippen gekommen wie auch jeder demagogische Appell ans Volk, was für die meisten Konservativen in der Weimarer Republik wie in der frühen Bundesrepublik galt. Vor allem hatte er nach zwei Weltkriegen gute Gründe, ein vereinigtes Europa zu schätzen.
Liebold: Jeder steht in seiner Zeit. Zudem ist nicht sicher, ob Migration die zentrale Frage der nächsten Jahre bleibt. Vielleicht sind die Konservativen am Puls der Zeit, die sich heute für Nachhaltigkeit nach dem Prinzip „Wenn du einen Baum fällst, pflanze einen neuen“ einsetzen. Hier haben wir in Sachsen Traditionsstränge, an sich anknüpfen lässt. Ich erinnere nur an den bei Chemnitz geborenen Hans Carl von Carlowitz als Schöpfer des forstlichen Nachhaltigkeitsbegriffs, dessen Überlegungen sich auf viele Bereiche übertragen lassen.
Die Politologen Sebastian Liebold und Frank Schale, Dres. phil., haben bis 2017 an der TU Chemnitz in einem vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Projekt die Ideengeschichte der frühen Bundesrepublik untersucht. Dabei entstand der Sammelband: „Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik“. Nomos-Verlag, 256 Seiten, 49 Euro.