Der katholische Beitrag zum Christlichen Friedensseminar Königswalde – eine Skizze für die Jahre bis 1989

In der Jako­bi­kir­che des heu­ti­gen Wer­dau­er Orts­teils Königs­wal­de tag­te das weit über Süd­westsach­sen hin­aus bekann­te Christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar seit 1979. Foto: Micha­el Kunze

„Hoff­nung“, hat­te Václav Havel einst gesagt, „ist nicht die Über­zeu­gung, dass etwas gut aus­geht, son­dern die Gewiss­heit, dass etwas Sinn hat, egal wie es aus­geht.“[1] Die­se Hoff­nung hat vie­le Men­schen, die in der DDR mit der gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Wirk­lich­keit unzu­frie­den waren, ange­trie­ben – auch im Süd­wes­ten des heu­ti­gen Frei­staats Sach­sen, im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt, Kreis Werdau.

So sam­mel­ten sich in Königs­wal­de, heu­te ein Wer­dau­er Orts­teil, am 19. Mai 1973 erst­mals 28 Teil­neh­mer[2], um dem evan­ge­li­schen Pfar­rer Rudolf Albrecht zuzu­hö­ren. In sei­nem Vor­trag sprach er über „Frie­den schaf­fen ohne Waf­fen – was spricht dafür?“ Initia­tor des aus die­ser Zusam­men­kunft her­vor­ge­hen­den Christ­li­chen Frie­dens­se­mi­nars, das fort­an jeweils in Früh­jahr und Herbst Jahr für Jahr bis 2019 tag­te, war Hans­jörg Weigel (1943 bis 2020), gebo­ren in Chem­nitz, seit 1945 wohn­haft in Königs­wal­de, aus­ge­bil­de­ter Kraft­fahr­zeug­elek­tri­ker, ver­hei­ra­tet, Vater. „‚Staats­feind­li­che Het­ze‘ brach­te ihn 1980 drei Mona­te in Unter­su­chungs­haft.“[3] Obwohl er zunächst in der Frei­en Deut­schen Jugend (FDJ) Grup­pen­rats­vor­sit­zen­der gewor­den war und in der para­mi­li­tä­ri­schen Gesell­schaft für Sport und Tech­nik (GST) Schieß­aus­bil­der, sich 1961 frei­wil­lig zum Dienst an der Waf­fe mel­de­te (aber abge­lehnt wur­de), ver­wei­ger­te er zwei Jah­re spä­ter den Waf­fen­dienst und trat 1966/67 aus Gewis­sens­grün­den als Bau­sol­dat an.[4] Am 29. April 2020 starb Weigel im Alter von 77 Jah­ren.[5]

Aus­gangs­punkt des ers­ten Frie­dens­se­mi­nars im Mai 1973 war der Wunsch der Teil­neh­mer, ihre Bau­sol­da­ten­zeit zu ver­ar­bei­ten, dar­aus für das eige­ne Leben nach Dienst­zeit­en­de Kon­se­quen­zen abzu­lei­ten, dies in Gemein­schaft und auf christ­li­cher Grund­la­ge zu tun und jenen, die für sich erwo­gen, künf­tig Bau­sol­da­ten zu wer­den, geis­ti­ges, geist­li­ches und gegen­über Drit­ten jed­we­der Cou­leur (etwa staat­li­chen Stel­len) argu­men­ta­ti­ves Rüst­zeug zu geben. „Ab 1979 tag­te das Semi­nar in der Dorf­kir­che. Die Teil­neh­mer­zahl stieg – vor allem nach Ein­füh­rung des Wehr­kun­de­un­ter­richts – dra­ma­tisch an. Am 1. Mai 1980“, so Hans­jörg Weigel in einem Vor­trag, den er im Win­ter­se­mes­ter 2004/05 an der TU Chem­nitz hielt, „tra­fen sich evan­ge­li­sche und katho­li­sche Jugend­li­che zum ers­ten Frie­dens­ge­bet in Königs­wal­de“.[6] Beim Herbst­se­mi­nar 1982 wur­den bereits rund 550 Teil­neh­mer gezählt – vie­len, die sich ange­mel­det hat­ten, muss­te wegen Über­fül­lung abge­sagt wer­den.[7]

Leben­di­ge Ökumene

Den öku­me­ni­schen Semi­nar­cha­rak­ter, der auch auf die Teil­nah­me kon­fes­sio­nell Unge­bun­de­ner setz­te, hat Hans­jörg Weigel, selbst als jun­ger Erwach­se­ner evan­ge­lisch-luthe­risch getauft, zeit sei­nes Lebens gewollt und geför­dert. Das Frie­dens­se­mi­nar gewann „sowohl kirch­lich als auch grenz­über­schrei­tend an öku­me­ni­scher Wei­te. Katho­li­sche Chris­ten arbei­te­ten ver­stärkt mit und setz­ten dabei ganz eige­ne Akzen­te“, heißt es in der Selbst­dar­stel­lung des Semi­nars[8], das sich auch öko­lo­gi­schen, öko­no­mi­schen und frie­dens­ethisch-gesell­schafts­po­li­ti­schen Fra­gen widmete.

Zwar blieb die Anzahl der teil­neh­men­den Katho­li­ken immer eine klei­ne Min­der­heit, doch trug die­se auf unter­schied­li­chen Fel­dern direkt oder indi­rekt lit­ur­gi­sche, kul­tu­rel­le und dar­über hin­aus­rei­chen­de Ele­men­te bei. Aus der Pfar­rei St. Fran­zis­kus zu Crim­mit­schau kam ein Groß­teil der römisch-katho­li­schen „Semi­na­ris­ten“ – nicht von unge­fähr. Die räum­li­che Nähe half gewiss. Doch tru­gen auch die dor­ti­gen Pries­ter dazu bei, jun­ge Leu­te aus ihren Rei­hen zu moti­vie­ren – etwa Andre­as und Ange­la Bay­er oder Paul Grün­ler.[9] Auch aus der benach­bar­ten Pfar­rei St. Boni­fa­ti­us in Wer­dau nah­men wie­der­holt Inter­es­sier­te teil.[10] Mit Pfar­rer Joa­chim Wen­zel (1925 bis 2005)[11] sowie Kaplan Micha­el Wypp­ler (1949 bis 2019)[12] stan­den zwei durch das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil (1962 bis 1965) gepräg­te Pries­ter der Regi­on den Königs­wal­der Anlie­gen beson­ders auf­ge­schlos­sen gegen­über. Wen­zel war von 1961 bis 1990 in Crim­mit­schau Pfar­rer und blieb nach Ein­tritt in den Ruhe­stand in der Stadt. Wypp­ler wirk­te nach sei­ner Pries­ter­wei­he von 1978 bis 1981[13] bei Wen­zel, spä­ter als des­sen Nach­fol­ger bis 2003. Vor allem Wypp­ler wur­de ein enga­gier­ter Weg­be­rei­ter von katho­li­scher Sei­te. Von Mai 1979 an nahm er am Semi­nar teil. Er, Weigel sowie Paul Grün­ler tru­gen maß­geb­lich zum Zustan­de­kom­men der öku­me­ni­schen Frie­dens­ge­be­te in Königs­wal­de bei, zu denen erst­mals am 1. Mai 1980 gela­den wur­de. Fort­an stets an jenem „Kampf- und Fei­er­tag der Werk­tä­ti­gen“, wie er von offi­zi­el­ler Stel­le hieß, sowie an einem Sonn­tag um den 1. Sep­tem­ber fan­den sie in der Königs­wal­der Kir­che statt.

Die Sehn­sucht nach Nähe in Abend­mahl und Eucha­ris­tie war groß, die Pra­xis umstritten

Seit­dem gehör­ten dem „Vor­be­rei­tungs­kreis“, jenem Gre­mi­um, das die Wochen­en­den jeweils inhalt­lich und orga­ni­sa­to­risch kon­zi­pier­te, auch Katho­li­ken an.[14] Abge­schlos­sen wur­de jedes Semi­nar „mit einem öku­me­ni­schen Got­tes­dienst am Sonn­tag­vor­mit­tag, und es bürgert[e] sich ein, hier abwech­selnd je einen evan­ge­li­schen und einen katho­li­schen Geist­li­chen pre­di­gen zu las­sen“.[15] Die katho­li­sche Betei­li­gung zeig­te sich nicht nur im Wech­sel des Pries­ters in Lit­ur­gie und Pre­digt mit dem evan­ge­li­schen Amts­bru­der. „Selbst für Abend­mahl und Eucha­ris­tie wur­de eine Form ent­wi­ckelt, die zeit­gleich unter einem gemein­sa­men Dach gefei­ert wer­den konn­te. Die Katho­li­ken emp­fin­gen die Hos­tie am Altar­platz, für die Pro­tes­tan­ten wur­den Brot und Wein durch die Rei­hen gereicht.“[16] Das sorg­te in der katho­li­schen Kir­che auch für Kri­tik. Kon­rad Liebs­ter, von 1972 bis 1986 katho­li­scher Pfar­rer in Wer­dau[17], beschwer­te sich über die lit­ur­gi­sche Pra­xis beim Bischof von Dres­den-Mei­ßen, Ger­hard Schaf­fran (1912 bis 1996). Infol­ge­des­sen muss­te sie modi­fi­ziert wer­den (wozu sich laut Aus­kunft von Lei­te­rin Bir­git Mitz­scher­lich vom 19. Juni 2020 „kei­ne Nach­wei­se“ im Archiv der Diö­ze­se Dres­den-Mei­ßen fin­den). Die Katho­li­ken zogen nun „nach der Pre­digt zur Eucha­ris­tie­fei­er aus der Kir­che“. Ange­hö­ri­ge bei­der Kon­fes­sio­nen soli­da­ri­sier­ten sich dar­auf­hin und schlos­sen sich der jeweils ande­ren Fei­er an.[18] Das soll den Bischof gegen­über Pfar­rer Wen­zel zum Ein­len­ken bewo­gen haben.[19] „Abend­mahl und Eucha­ris­tie durf­ten seit Okto­ber 1981 wie­der zeit­gleich in der Kir­che gefei­ert wer­den.“[20]

Nach Hans­jörg Wei­gels Tod und dem Ent­schluss sei­ner Mit­strei­ter, das Semi­nar ein­zu­stel­len, ver­öf­fent­lich­te der Vor­be­rei­tungs­kreis eine Erklä­rung. „Dank­bar“, hieß es dar­in, „sind wir auch für die öku­me­ni­schen Got­tes­diens­te mit dem Aga­pe­mahl, das uns kon­fes­si­ons­über­grei­fend mit­ein­an­der ver­bun­den hat.“[21]

Andre­as Bay­er aus Crim­mit­schau war einer jener Katho­li­ken, die das Frie­dens­se­mi­nar maß­geb­lich geprägt hat; seit cir­ca 1979 nahm er teil: „Mein ers­tes Semi­nar war für mich ein ein­schnei­den­des Erleb­nis“, so Bay­er in der Rück­schau. Er gehört zur Pfar­rei St. Fran­zis­kus.[22] Die gemein­sa­me Fei­er von „Abend­mahl und Kom­mu­ni­on“ war und blieb für ihn „ein wesent­li­cher Schritt nach vorn“, schrieb der gelern­te Tisch­ler auf Fra­gen, die er mit sei­ner eben­falls katho­li­schen und jah­re­lang im Semi­nar enga­gier­ten Ehe­frau Ange­la auf Bit­ten des Autors beant­wor­te­te. Was ihn an Königs­wal­de fas­zi­nier­te, war die „Art, sich in einer Kir­che zu begeg­nen und vor allem Begeg­nung wirk­lich zu erle­ben und nicht nur als Ide­al vor sich herzutragen“.

Das Ehe­paar nahm bis 1990 „sehr regel­mä­ßig“ an Semi­na­ren teil, „spä­ter … zeit­be­dingt sel­te­ner“, schrieb Ange­la Bay­er, die im Alter von cir­ca 14 Jah­ren um das Jahr 1980 dazu stieß. Die gelern­te Kran­ken­schwes­ter[23] war dann bis cir­ca 1985 im Vor­be­rei­tungs­kreis, ihr Ehe­mann eben­falls kurz­zei­tig. Die Anzahl der Katho­li­ken, die zu den Semi­na­ren kam, war zwar „immer sehr gering“, Ange­la Bay­er nann­te maxi­mal etwa 15 in den Jah­ren vor 1989/90 – vor­ran­gig Schü­ler, Jugend­li­che, Aus­zu­bil­den­de.[24] Dass es nicht mehr waren, hing zwei­fel­los mit der Dia­spo­ra­si­tua­ti­on der Katho­li­ken in der Regi­on zusam­men, nach Mei­nung der bei­den Crim­mit­schau­er aber auch damit, dass vie­le ihrer Kon­fes­si­ons­ge­schwis­ter in der DDR eine eher unpo­li­ti­sche Ein­stel­lung an den Tag leg­ten. Ihre katho­li­sche Pfar­rei beschrie­ben sie durch „Arbei­ter, Umsied­ler und kaum durch Intel­lek­tu­el­le geprägt“, doch mit lan­ge vor­han­de­ner „besondere[r] ökumenische[r] Ausrichtung“.

Kreuz­weg, Impuls­re­fe­ra­te, Bild­haue­rei, Gesang

Der katho­li­sche Bei­trag beschränk­te sich dabei nicht auf die Mit­ge­stal­tung öku­me­ni­scher Got­tes­diens­te und Frie­dens­ge­be­te, auch wenn sie von zen­tra­ler Bedeu­tung waren. Bei den Früh­lings­se­mi­na­ren 1981 und 1985 hielt mit dem gebür­ti­gen Mag­de­bur­ger Joa­chim Garstecki zwei­mal ein Katho­lik das Ein­füh­rungs­re­fe­rat. Garstecki hat­te 1960 bis 1965 in Erfurt katho­li­sche Theo­lo­gie stu­diert. Ab 1971 wirk­te er als katho­li­scher „Gast­ar­bei­ter“ und Stu­di­en­re­fe­rent für Frie­dens­fra­gen im Sekre­ta­ri­at des Bun­des der Evan­ge­li­schen Kir­chen in Ost-Ber­lin.[25] Garstecki sprach 1981 über „Erzie­hung zum Frie­den“ und mach­te dazu fünf Vor­schlä­ge: von der Nega­ti­on zur Posi­ti­on gelan­gen; eine Spra­che des Frie­dens wäh­len; Raum­las­sen für Alter­na­ti­ven in Den­ken, Urtei­len, Han­deln; die gesell­schaft­li­che Umge­bung beein­flus­sen; Sicher­heit nicht gegen Ande­re, son­dern mit ihnen – nichts davon hat an Rele­vanz ver­lo­ren. 1985 refe­rier­te er über „Gewalt­frei­heit im Frie­dens­dienst“. Dabei ging er von der Prä­mis­se aus, dass Frie­den nicht mit Gewalt zu errei­chen sei, Sicher­heit also nicht „errüs­tet wer­den kann“.[26]

Seit 1987 lud das Semi­nar wie­der­holt – und zusätz­lich zu den bei­den jähr­li­chen Wochen­en­den – zu Klei­nen Kon­zi­li­en ein. Vom 6. bis 9. April 1989 fand die drit­te der­ar­ti­ge Zusam­men­kunft statt – mit meh­re­ren Dut­zend Teil­neh­mern, die aus der DDR, der Bun­des­re­pu­blik, Polen, der Tsche­cho­slo­wa­kei, aber auch aus dem nicht­so­zia­lis­ti­schen Aus­land stamm­ten. Dabei wur­de zu einem „Gesprächs­weg“ gela­den, der an einen katho­li­schen Kreuz­weg erin­ner­te und bei dem unter hohem per­sön­li­chen Risi­ko für die von der Sta­si über­wach­ten Teil­neh­mer, bei Gebet und mit Kurz­in­for­ma­tio­nen, neur­al­gi­sche Punk­te in der Umge­bung abge­schrit­ten wur­den: dar­un­ter der GST-Übungs­platz, Schieß­stän­de der Volks­po­li­zei, ein Übungs­platz der Natio­na­len Volks­ar­mee, Absetz­tei­che der Wis­mut-Uran­wä­sche, eine Müll­de­po­nie, ein „Fremdarbeiter“-Grab, ein Denk­mal für Welt­kriegs­to­te. Die öku­me­ni­schen Andach­ten wäh­rend des kon­zi­lia­ren Tref­fens „wur­den durch pol­nisch-katho­li­sche und rus­sisch-ortho­do­xe Ele­men­te mit­ge­prägt“[27].

Katho­li­ken leis­te­ten zudem künst­le­ri­sche Bei­trä­ge: So stell­te beim Herbst­se­mi­nar 1983 die mit dem 1977 nach Regime­kri­tik aus der DDR aus­ge­bür­ger­ten Schrift­stel­ler Rei­ner Kun­ze befreun­de­te Grei­ze­rin Elly-Vio­la Nahm­ma­cher (1913 bis 2000) Holz­plas­ti­ken in der Kir­che aus. Wer­ke von ihrer Hand sind in zahl­rei­chen Got­tes­häu­sern über Sach­sen und Thü­rin­gen hin­aus ver­tre­ten, etwa in der katho­li­schen St.-Bonifatius-Kirche zu Wer­dau. Zwei Jah­re nach ihr kam der Dres­de­ner Bild­hau­er Fried­rich Press (1904 bis 1990) mit einer Aus­wahl Plas­ti­ken nach Königswalde.

Auch wenn nun, nach 47 Jah­ren und 93 Ver­an­stal­tun­gen, nach Hans­jörg Wei­gels Tod das Semi­nar nicht fort­ge­führt[28] wird, bleibt Teil­neh­mern auch die Erin­ne­rung an das Jahr 1989. Beim Herbst­se­mi­nar mit dem Mot­to „40 Jah­re DDR – was war, was ist, was wird?“ über­stie­gen die mehr als 600 Teil­neh­mer alle orga­ni­sa­to­ri­schen Mög­lich­kei­ten. Die Tagung wur­de flan­kiert von Berich­ten über die dama­li­gen Demons­tra­tio­nen in Dres­den, Karl-Marx-Stadt und Plau­en, über die Grün­dungs­ver­samm­lung der DDR-Sozi­al­de­mo­kra­tie und das Neue Forum, des­sen Mit­grün­der Mar­tin Bött­ger anwe­send war – wie auch der spä­te­re luthe­ri­sche Lan­des­bi­schof Vol­ker Kreß. „Abends san­gen die Dresd­ner Kapell­kna­ben“[29], Ange­hö­ri­ge des katho­li­schen Kathe­dral­chors. „Die Bri­sanz vor dem Mau­er­fall war deut­lich zu spü­ren, auch in Königs­wal­de war die Stim­mung auf­ge­la­den, die Dis­kus­sio­nen wur­den noch offe­ner geführt“, schrieb Ange­la Bay­er. Irri­tie­rend sei für sie die Teil­nah­me von Leu­ten gewe­sen, „die auf den ‚Wen­de­zug‘ auf­ge­sprun­gen sind und sich dort als poli­ti­sche Akti­vis­ten pro­fi­lie­ren woll­ten. Aber das war in die­ser Zeit ja an vie­len Orten der Fall.“

Das Ver­mächt­nis

Was bleibt für katho­li­sche Prot­ago­nis­ten von Königs­wal­de? „Das Frie­dens­se­mi­nar bezeich­ne ich als mei­ne Lebens­schu­le: poli­tisch, fried­lich, fromm“, so Ange­la Bay­er. Für ihren Mann blei­ben „die Freu­de am For­mu­lie­ren der eige­nen Mei­nun­gen und Gedan­ken; der Mut, vor gro­ßer Run­de zu spre­chen; die Bereit­schaft quer­zu­den­ken; der Reiz der Sub­ver­si­on; eine christ­li­che Gemein­schaft, die ganz nahe am Leben ist, und die Fähig­keit, ande­re Mei­nun­gen aus­zu­hal­ten“. Hans­jörg Weigel hat­te dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Demo­kra­tie Arbeit macht, Ver­ant­wor­tung erfor­dert. Schon am 3. Novem­ber 1989 hat­te er beim ers­ten Frie­dens­ge­bet in Wer­dau gesagt: „Auch der poli­ti­sche Geg­ner ist zu ach­ten, er ist ein Mensch, der poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung mit­zu­tra­gen bereit ist.“ Aber auch fest­ge­hal­ten: „Bei­fall blieb aus.“[30] Doch „Semi­nar“ sei „Pflanz­schu­le“. In Königs­wal­de wur­de Samen aus­ge­streut und in den Boden gebracht, unter katho­li­scher Betei­li­gung und mit Havels Hoff­nung.[31]

Der Text ist auch in den „Säch­si­schen Hei­mat­blät­tern“, 66. Jahr­gang, Heft 4 (2020), S. 423–427, erschienen.

Fuß­no­ten

[1] Zitiert nach: Klu­ge, Mat­thi­as: „Blei­be im Lan­de und weh­re dich täg­lich“, in: Jes­se, Eck­hard (Hrsg.): Fried­li­che Revo­lu­ti­on und deut­sche Ein­heit. Säch­si­sche Bür­ger­recht­ler zie­hen Bilanz, Ber­lin 2006, S. 62–74, hier: S. 68.

[2] Auf der Inter­net­sei­te des Frie­dens­se­mi­nars ist von 26 Teil­neh­mern die Rede: http://www.friedensseminar.de/index.php?nr=3&goto=Vorstellung.htm, Abruf am 25.9.2020. „… vor­aus­ge­gan­gen sind vie­le Aben­de in der Jun­gen Gemein­de und inten­si­ve Wochen­en­den im nahe­ge­le­ge­nen Rüst­zei­ten­heim, die sich immer wie­der mit Pro­ble­men des Wehr­diens­tes, der Wehr­dienst­ver­wei­ge­rung, christ­li­cher Frie­dens­ar­beit und des gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ments beschäf­tig­ten, solan­ge bis eben dar­aus der Wunsch ent­stand, dies in semi­na­ris­ti­scher Arbeit und mit Hil­fe von qua­li­fi­zier­ten Refe­ren­ten fort­zu­füh­ren … unter dem Dach der Kir­che und im Schutz des dama­li­gen Gemein­de­pfar­rers Klaus Albers.“ Ebenda.

[3] Jes­se, Eck­hard: Hans­jörg Weigel, in ders. (Hrsg.): Fried­li­che Revo­lu­ti­on und deut­sche Ein­heit. Säch­si­sche Bür­ger­recht­ler zie­hen Bilanz, Ber­lin 2006, S. 261–262, hier: S 261. Ver­ur­teilt wor­den war er zunächst zu 18 Mona­ten Frei­heits­ent­zug ohne Bewäh­rung – wie vor­her von MfS-Chef Erich Miel­ke fest­ge­legt. Auf öffent­li­chen Druck hin, der evan­ge­li­schen Kir­che und auch aus West­deutsch­land, wur­de die Stra­fe spä­ter zu zwei Jah­ren auf Bewäh­rung aus­ge­setzt und Weigel im August 1980 ent­las­sen. Vgl. Mar­tin-Luther-King-Zen­trum für Gewalt­frei­heit und Zivil­cou­ra­ge (Hrsg.): Raum für Güte und Gewis­sen. Das christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt­/D­DR 1973–1990. Berich­te, Bild- und Ton­do­ku­men­te, Wer­dau 2004, S. 76.

[4] Vgl. zu sei­nem Wer­de­gang: Weigel, Hans­jörg: „Man wan­delt nur das, was man annimmt“, in: Jes­se, Eck­hard (Hrsg.): Fried­li­che Revo­lu­ti­on und deut­sche Ein­heit. Säch­si­sche Bür­ger­recht­ler zie­hen Bilanz, Ber­lin 2006, S. 156–167, hier: S. 156–158. Die Grün­de für sei­nen Ein­stel­lungs­wan­del gegen­über dem SED-Staat kön­nen hier nicht wie­der­ge­ge­ben wer­den. An ande­rer Stel­le ist dies bereits wie­der­holt dar­ge­legt wor­den. Vgl. statt vie­ler: Klu­ge, Mat­thi­as: Das Christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de bei Wer­dau. Ein Bei­trag zu den Ursprün­gen der ost­deut­schen Frie­dens­be­we­gung in Sach­sen, Leip­zig 2004.

[5] Freie Pres­se (Lokal­teil Wer­dau) vom 4. Mai 2020, https://www.freiepresse.de/zwickau/werdau/hansjoerg-weigel-verstorben-artikel10785757, Abruf am 11.9.2020.

[6] Weigel, Hans­jörg: „Man wan­delt nur das, was man annimmt“, in: Jes­se, Eck­hard (Hrsg.): Fried­li­che Revo­lu­ti­on und deut­sche Ein­heit. Säch­si­sche Bür­ger­recht­ler zie­hen Bilanz, Ber­lin 2006, S. 158–159. Laut einer Stel­lung­nah­me des Vor­be­rei­tungs­krei­ses des Frie­dens­se­mi­nars vom 29. August 2020 soll an den Frie­dens­ge­be­ten fest­ge­hal­ten wer­den; vgl. http://www.friedensseminar.de/download/Wort%20des%20Vorbereitungskreises.pdf, Abruf am 25.9.2020.

[7] Vgl. Mar­tin-Luther-King-Zen­trum für Gewalt­frei­heit und Zivil­cou­ra­ge (Hrsg.): Raum für Güte und Gewis­sen. Das christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt­/D­DR 1973–1990. Berich­te, Bild- und Ton­do­ku­men­te, Wer­dau 2004, S. 102.

[8] Wie Link in Anm. 2.

[9] Vgl. Klu­ge, Mat­thi­as: Die Blu­me aus dem Stahl­helm. Das Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de als Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt einer alter­na­ti­ven Gegen­öf­fent­lich­keit in der DDR, Dres­den 2017, S. 58.

[10] Nach Aus­kunft von Pfar­rer Wer­ner Klo­se (gebo­ren 1940), von 1988 bis 2011 Pfar­rer von St. Boni­fa­ti­us zu Wer­dau, Tele­fo­nat vom 28.8.2020.

[11] Vgl. den Nach­ruf auf http://www.hl-geist-werdau-crimmitschau.de/pfarreien-aktuell/aktuelle-informationen/a2005/pfarrer-wenzel-verstorben.html, Abruf am 25.9.2020.

[12] Vgl. den Nach­ruf auf http://www.hl-geist-werdau-crimmitschau.de/pfarreien-aktuell/aktuelle-informationen/a2019/pfarrer-i-r-michael-wyppler-verstorben.html, Abruf am 25.9.2020.

[13] Nach Aus­kunft von Andre­as Bay­er, der nach eige­nen Anga­ben als Jugend­li­cher durch Kaplan Wypp­ler auf das Frie­dens­se­mi­nar auf­merk­sam gemacht wor­den ist.

[14] Vgl. Mar­tin-Luther-King-Zen­trum für Gewalt­frei­heit und Zivil­cou­ra­ge (Hrsg.): Raum für Güte und Gewis­sen. Das christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt­/D­DR 1973–1990. Berich­te, Bild- und Ton­do­ku­men­te, Wer­dau 2004, S. 70.

[15] Wie Anm. 7.

[16] Wie Anm. 14.

[17] Vgl. http://www.hl-geist-werdau-crimmitschau.de/gemeinde-st-bonifatius-werdau/geschichte/priestergalerie.html, Abruf am 26.9.2020.

[18] Ange­la Bay­er berich­te­te: Mit Horst Hoff­mann (gestor­ben 1990), katho­li­scher Dekan und Pfar­rer von St. Johann Nepo­muk (Zwi­ckau), „war ein Tref­fen mit dem Vor­be­rei­tungs­kreis geplant, um die Situa­ti­on zu klä­ren. Die­ser Ter­min wur­de wegen Krank­heit des Dekans sehr kurz­fris­tig abge­sagt. Für uns katho­li­sche Mit­glie­der des Vor­be­rei­tungs­krei­ses war das ein schwe­rer Schlag. Wir waren damals sehr jung – zwei Mäd­chen von cir­ca 15 und 16 Jah­ren, viel­leicht ein wenig älter – und daher ein Stück weit unbe­fan­gen. Wir fuh­ren sofort … mit dem Moped nach Zwi­ckau, um Dekan Hoff­mann ‚zur Rede zu stel­len‘, war­um er das Tref­fen abge­sagt hat­te. … Wir tra­ten [gegen­über der Haus­häl­te­rin] vehe­ment auf … Dar­auf­hin kam Dekan Hoff­mann, stark erkäl­tet und wahr­schein­lich fie­bernd, an die Tür. … Aller­dings muss­ten wir ein­se­hen, dass er wirk­lich krank war. …  Wenn ich mich nicht täu­sche, kam das Tref­fen spä­ter nicht mehr zustan­de. … Es wur­de den katho­li­schen Pries­tern unter­sagt, die­se Form des gemein­schaft­li­chen Mahl­hal­tens wei­ter­zu­füh­ren. Das war ein sehr her­ber Schlag für den Vor­be­rei­tungs­kreis und vie­le der Teil­neh­mer. … Für gro­ße Tei­le der [katho­li­schen] Crim­mit­schau­er Gemein­de hat­te das Ver­bot kei­ne nega­ti­ve Bedeu­tung.“ Alle direk­ten und indi­rek­ten Zita­te von Ange­la und Andre­as Bay­er im Text stam­men aus einer acht­ein­halb­sei­ti­gen Stel­lung­nah­me zu 19 Fra­gen des Autors, der für die umfang­rei­che Aus­kunft dankt.

[19] Wie die­ses Ein­len­ken aus­ge­se­hen hat, ist aus ers­ter Hand nicht über­lie­fert. Micha­el Gehr­ke, von 2003 bis 2015 katho­li­scher Pfar­rer in Crim­mit­schau und eben­falls im Frie­dens­se­mi­nar enga­giert, berich­tet in einem Gespräch mit dem Autor vom 13. Mai 2020 über eine frü­he­re Unter­re­dung mit Joa­chim Wen­zel. Die­ser habe ihm sei­ner­zeit mit­ge­teilt, Bischof Schaf­fran woll­te Wen­zel in einem Tele­fo­nat über­zeu­gen, künf­tig von der kri­ti­sier­ten lit­ur­gi­schen Pra­xis in Königs­wal­de abzu­se­hen. Wen­zel habe das abge­lehnt. Dar­auf­hin soll Schaf­fran ver­är­gert das Tele­fo­nat been­det haben, ohne dass es zu Kon­se­quen­zen kam.

[20] Wie Anm. 14.

[21] http://www.friedensseminar.de/download/Wort%20des%20Vorbereitungskreises.pdf, Abruf am 25.9.2020.

[22] Kürz­lich wur­de die­se mit neun wei­te­ren süd­west­säch­si­schen Pfar­rei­en zur Pfar­rei Hei­li­ge Fami­lie zusam­men­ge­legt. Vgl. https://www.freiepresse.de/zwickau/zwickau/westsachsens-katholiken-gruenden-neue-grosspfarrei-artikel11111969, Abruf am 26.9.2020.

[23] Vgl. zu den Berufs­an­ga­ben des Ehe­paars: Mar­tin-Luther-King-Zen­trum für Gewalt­frei­heit und Zivil­cou­ra­ge (Hrsg.): Raum für Güte und Gewis­sen. Das christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt­/D­DR 1973–1990. Berich­te, Bild- und Ton­do­ku­men­te, Wer­dau 2004, S. 159.

[24] Die­se Anga­be bezieht sich laut Ange­la und Andre­as Bay­er auf die Crim­mit­schau­er Pfarrei.

[25] Vgl. zum Lebens­lauf: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/joachim-garstecki, Abruf am 26.9.2020.

[26] Mar­tin-Luther-King-Zen­trum für Gewalt­frei­heit und Zivil­cou­ra­ge (Hrsg.): Raum für Güte und Gewis­sen. Das christ­li­che Frie­dens­se­mi­nar Königs­wal­de im dama­li­gen Bezirk Karl-Marx-Stadt­/D­DR 1973–1990. Berich­te, Bild- und Ton­do­ku­men­te, Wer­dau 2004, S. 84–85, 123.

[27] Eben­da, S. 150.

[28] Vgl. Aus für Christ­li­ches Frie­dens­se­mi­nar, in: Der Sonn­tag vom 30. August 2020, Nr. 35, S. 6; Frie­dens­se­mi­nar: Eine Ära endet, in: Freie Pres­se (Lokal­teil Wer­dau) vom 1. Sep­tem­ber 2020, Nr. 204, S. 9.

[29] Weigel, Hans­jörg: „Man wan­delt nur das, was man annimmt“, in: Jes­se, Eck­hard (Hrsg.): Fried­li­che Revo­lu­ti­on und deut­sche Ein­heit. Säch­si­sche Bür­ger­recht­ler zie­hen Bilanz, Ber­lin 2006, S. 163.

[30] Ebenda.

[31] Der Autor dankt dem His­to­ri­ker Dr. Mat­thi­as Klu­ge (Crim­mit­schau-Fran­ken­hau­sen) für sei­ne gro­ße Hilfs­be­reit­schaft bei der Erschlie­ßung des The­mas und bereit­ge­stell­tes Illustrationsmaterial.

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