Der seit 1996 in Chemnitz-Euba heimische Ostasienwissenschaftler Joachim Glaubitz ist tot. 92-jährig starb er, der führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft beriet und das Goethe-Institut in Tokio geleitet hat, am 9. November 2021 nach kurzer Krankheit in Chemnitz – Rückschau auf ein langes Leben anhand eines Interviews aus dem Jahr 2014.
CHEMNITZ. Der erste Kontakt mit Chemnitz kam vor rund 40 Jahren zustande, 1981. Damals nahm Joachim Glaubitz in Karl-Marx-Stadt an einer wissenschaftlichen Tagung teil, die sich dem spannungsreichen chinesisch-sowjetischen Verhältnis widmete. Das Treffen, das von der Ost-Berliner Humboldt-Universität organisiert worden war, fand im Beisein angesehener Politik- und Sozialwissenschaftler aus dem In- und dem Ausland im „Chemnitzer Hof“ statt, wie Glaubitz in der Rückschau berichtete. Untergebracht war er im damaligen „Inter-Hotel“ (später „Mercure“). „Die Gesprächsatmosphäre“, urteilte der Forscher über die Zusammenkunft, „war ziemlich offen.“ Das konfliktbehaftete deutsch-deutsche Verhältnis außen vor lassend, löste sich manche in der DDR bei offiziellen Anlässen sonst verkrampfte Zunge. Dass Glaubitz ab 1996 in Chemnitz heimisch werden würde, war zu jener Zeit nicht absehbar.
Mit dem am 11. März 1929 im niederschlesischen, heute zu Polen gehörenden Hennersdorf bei Görlitz Geborenen hat die Stadt einen (auch in seiner Generation) selten umfassend gebildeten und weitgereisten Europa- und Ostasienkenner verloren. Seine besondere Begeisterung galt dem und Begabung lag im Studium der Sprachen. Russisch und Japanisch hatte er gelernt, darüber hinaus sich zeitweilig intensiv etwa mit Mandarin, Sanskrit und Arabisch befasst, auch mit dem Lateinischen und weiteren Sprachen. Zeugnis vom hohen Ansehen, das er genoss, legte die bei der Trauerfeier trotz Corona-Pandemie gutgefüllte St.-Joseph-Kirche auf dem Chemnitzer Sonnenberg ab. Zu den Gästen zählten der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und die neugewählte Chemnitzer Sozialbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky.
Glaubitz‘ Weg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Die Familie – der Vater Bahnbeamter, die Mutter Hausfrau – zog 1942 nach Jahren in Greiffenberg (Kreis Löwenberg i. Schlesien) in den westlich der Neiße liegenden Teil von Görlitz (wo er sechs Jahre später sein Abitur bestand). So vor Flucht und Vertreibung bewahrt, ließ er sich nach Kriegsende – dem Volkssturm durch einen wohlwollenden Arzt entkommen, der Atteste ausstellte – in Meißen und Leipzig zum Russischlehrer ausbilden. Das Examen kaum in der Tasche, nahm er 1950 in Leipzig ein Sinologie-Studium auf. Was sich anschickte, die konzentrierte Erkundung eines Orchideenfachs zu werden – „wir waren anfangs nicht mehr als vier, fünf Studenten“ –, stand nach Maos Sieg unter gehöriger Aufmerksamkeit der DDR-Offiziellen: „Man brauchte nun Leute“, sagte Glaubitz, „die Chinesisch können.“ So strömte, vom Staat gefördert, eine Vielzahl „politisch bewusster“ Kräfte ins Fach, manche tagein, tagaus im Blauhemd der FDJ. Der Philosoph Ernst Bloch, in seinen Vorlesungen Pfeife rauchend, zählte zu Glaubitz‘ Lehrern. Freier Diskurs, den er in frühen Semestern schätzte, wurde schnell riskant. 1948 bereits war der prominenteste Studentenführer in der SBZ, Wolfgang Natonek (1919–1994), Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei, verhaftet worden. Er hatte sich der Gleichschaltung der Hochschulen widersetzt – die Strafe, drakonisch: 25 Jahre Zwangsarbeit; 1956 konnte Natonek in die Bundesrepublik ausreisen.
Glaubitz plante nun seinen Weggang akribisch. Anfang 1953 – zwei Koffer für sein Gepäck mussten genügen – fuhr er über Berlin davon. Dann kam der Volksaufstand, in dessen Nachgang die Repression vorübergehend nachließ. „Herr Glaubitz“, so habe man ihn bei Familienbesuchen in der DDR nun konfrontiert, „warum sind Sie gegangen? Es ist doch nicht so schlimm bei uns.“ Glaubitz blieb bei seiner Entscheidung, hat sie nie bereut – schnell wurden die Zügel wieder straffgezogen; er aber nahm an der Uni Hamburg ein Studium der Japanologie auf, wurde 1958 im Fach promoviert. Sein Ruf als Sprachenfachmann eilte ihm schon voraus: Die Zeitschrift „Osteuropa“ bat um Analysen zur sino-sowjetischen Frage und stellte dafür die „Prawda“ wie auch die chinesische Parteizeitung zur Verfügung.
Der Anfang in der Bundesrepublik war gleichwohl schwierig, noch während seines Studiums hatte er im Hamburger Hauptbahnhof Teller gespült. Nach dessen Abschluss waren Stellen für Geistes‑, Sprach- und Sozialwissenschaftler rar. Glaubitz bewarb sich 1959 bei dem im Aufbau befindlichen Goethe-Institut als Deutschlehrer. Die Kulturvermittler schulten – besonders in Kleinstädten wie Bad Reichenhall oder Grafing bei München – Gastarbeiter und Studenten aus dem Ausland, die meist in einheimischen Familien unterkamen und so schnell Fortschritte machten.
Die beiden Jahre galten Glaubitz nicht als vertane Zeit, sondern Chance zum „Kennenlernen meiner Muttersprache“, bis 1962 das Angebot kam, die Tokioter Institutsleitung zu übernehmen. In Genua schiffte er sich im Mai desselben Jahres mit seiner ersten Ehefrau und der zweijährigen Tochter auf einem Passagierfrachter ein. Es ging durch den Suezkanal nach Dschibuti – Singapur – Manila – Hongkong – Yokohama – Tokio. Auch für den der Sprache Mächtigen war im Land der aufgehenden Sonne „alles neu“. Europäern sei es schwer, Japanern nahezukommen – „Innen“ und „Außen“ werden deutlich markiert. Dabei wurde Glaubitz – was Wenigen vergönnt ist – zu Hochzeiten und Geburtstagen eingeladen, nahm an Beerdigungen teil, lebte im Hause eines Freundes – etwas ganz und gar Besonderes. „Il est tatamiser“, sagen die Franzosen. „Er ist tatamisiert“, in der japanischen Kultur angekommen, ihr zugerechnet wie die Reisstrohmatte. Glaubitz empfand es nicht so, fühlte stattdessen seine Zugehörigkeit zum europäischen Kulturkreis in jenen Jahren besonders stark, so groß waren und blieben die kulturellen Gegensätze: „Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die uneigennützige Hilfe für einen Fremden“, fasste er sie 2014 in ein Bild, „ist in Ostasien unbekannt.“
In Tokio blieb die Familie bis 1965, ein Sohn ward vor der Rückkehr nach Deutschland geboren. Glaubitz kam schließlich 1974 für einige Monate ins Land zurück, auch später. Gern hätte man ihn begleitet. 1964 bereiste er mit Erlaubnis des rotchinesischen Außenministeriums den Koloss auf dem Festland, „zu dem Japan eine kulturelle Affinität empfindet, jedoch mit schlechtem Gewissen“. Die Besatzungszeit ist nicht vergessen – auf beiden Seiten. Mit der Eisenbahn gelangte er, ganz auf sich gestellt und doch von Parteistellen fest an die Hand genommen, von Hongkong nach Shanghai, das die koloniale, baulich erkennbare Vergangenheit noch nicht abgestreift hatte und bedeutender wirkte als Peking. Es gab keine Touristen, auch nicht in Kanton, nicht an der Chinesischen Mauer. Die Hauptstadt wiederum erschien als großes Dorf, autofrei und voller Fahrräder. Auf den Zugstrecken dazwischen: „Dunkel, Dunkel, Dunkel; nichts, nichts, nichts“. Die Auswirkungen des verheerenden „Großen Sprungs nach vorn“ waren noch spürbar, auch aber ein leichter Aufschwung. Dazu im Gegensatz Hongkong, die britische Kronkolonie: eine „sprudelnde, funkelnde, kapitalistische Metropole“.
Als Glaubitz 1966 mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk reiste, von dort weiter mit dem Flugzeug nach Peking, „war alles bunter“. Er erlebte „eine Lebendigkeit, die beeindruckte“. Das nächste Großexperiment der chinesischen Führung, die Kulturrevolution, zeigte noch keine Auswirkungen. Trotz all der Eindrücke, Erfahrungen: Glaubitz suchte Veränderung. Der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal (1908–1991) gab einen Tipp: „Er empfahl mir das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien.“ Der Ostasienkenner stieg in Köln ein, forschte zum Sino-Kommunismus, schrieb Analysen. Doch die Ausrichtung der Sowjeto- und Sinologen behagte ihm nicht – die Enge. Das Angebot, als Forschungsreferent für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen tätig zu werden, kam 1968 gerade recht. Er beriet führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft, trug Berthold Beitz (1913–2013) persönlich vor. Der SWP, größte Einrichtung ihrer Art in Europa, hielt Glaubitz bis zur Pensionierung 1992 die Treue, habilitierte sich 1973 mit der Arbeit: „China und die Sowjetunion: Aufbau und Zerfall einer Allianz“ und erhielt eine außerplanmäßige Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ins Jahr seines Eintritts in den Ruhestand fiel die Veröffentlichung des Bandes „Fremde Nachbarn: Tokyo und Moskau – ihre Beziehungen vom Beginn der 70er Jahre bis zum Ende der Sowjetunion“.
Frühzeitig trat er zudem als Übersetzer hervor, etwa bei der Herausgabe des aufsehenerregenden Bandes „Opposition gegen Mao: Abendgespräche am Yenshan und andere politische Dokumente“ (1969). Längst in Chemnitz, übersetzte er bis 2011 die von Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew in russischer Sprache publizierte, viele Hundert Seiten umfassende Dokumentation „Michail Gorbatschow und die deutsche Frage: Sowjetische Dokumente 1986–1991“. Zum Umzug nach Sachsen kam es, da Glaubitz‘ zweite Ehefrau Beate Neuss, die später stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung geworden ist, einen Ruf an die TU Chemnitz auf die Professur für Internationale Politik annahm. Das gemeinsame Haus wurde ein Ort großer Gastfreundschaft und des tiefsinnigen Gespräches, auch mit Studenten.
Joachim Glaubitz war ein stiller Arbeiter, ein Gelehrter alter Schule, bis ins hohe Alter zugewandt, von freudigem Ernst, nie auf billigen Effekt aus, vielmehr Klarheit und Präzision, ein Mann der Form in Auftreten und Wortwahl: „Täglich“, schrieb er einmal, „erleben wir den gedankenlosen Umgang mit Sprache oder die Misshandlung dieses herrlichen Instruments.“ Er trat dafür ein, Worte wohl zu wägen, erkannte die Sprachen in ihrer Verschiedenheit als wesentliche Schlüssel zum Verständnis der Kulturen. Den Andern zu verstehen, das bedeutete ihm, Mentalität und Denkmuster zu ergründen. Sprache und Schrift sprechen dabei selbst. Stundenlang konnte man sich mit ihm über japanische und chinesische Schriftzeichen austauschen, ihren Wandel, gegenseitige Einflüsse. Verständigung anzustreben, hieß ihm nicht, kulturelle oder andere Unterschiede einzuebnen – im Gegenteil.
Alle Kulturen der Welt haben nach den ewigen Dingen gefragt, nach Gott, Endlichkeit und Unendlichkeit. Glaubitz, der „die ostdeutsche Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Glaubensfragen“ traurig nannte, hatte dazu einen kundigen Gesprächspartner, seinen Schulfreund Georg Zur (1930–2019), Vatikandiplomat, Nuntius, Präsident der Päpstlichen Diplomatenakademie. Der Kontakt hielt über Zeiten und räumliche Distanzen. Glaubitz besuchte Zur in dessen Alterssitz im später als Wohnstatt von Papst Franz bekanntgewordenen Domus Sanctae Martae. Auch wenn die Authentizität des Werner Heisenberg zugeschriebenen Zitats umstritten ist, erwähnte er es gern, nahm es in die Gespräche mit seinem Freund in Rom:„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch“, soll der Nobelpreisträger gesagt haben, „aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“
Seinem bis zum Tode unbändigen Interesse an großen Fragen ging Glaubitz oft in der in Euba so geschätzten Stille nach, wenn er sich nicht mathematischen Fragestellungen widmete oder zum Schach in seinen Chemnitzer Verein eilte – was wörtlich zu nehmen ist, sein Fahrstil war flott – oder mit seiner Frau reiste, früh schon und auch zuletzt vielfach in den Alpenraum, wo die Kulturen des Kontinents so fruchtbar ineinanderfließen. Noch im Sommer wagte er in Südtirol einen Gleitschirm-Tandemsprung. Er fertigte Kalligrafien – von griechisch „kállos“ („Schönheit“). Joachim Glaubitz war ein Mensch, der seine Sinne einsetzte, der (zu-) hörte, sah (auch mit dem heimischen Teleskop zu den Sternen) und fühlte, die Gerüche der bereisten Länder und der Jahreszeiten aufnahm und schmeckte (und dazu vorzügliche Adressen zu nennen wusste).
Der seit Jahren anschwellende (Kultur-) Pessimismus war ihm fremd, die Zukunft offen. Wandel ängstigte ihn nicht; er strebte danach, ihn zu verstehen und für diesen Anspruch zu werben.